Lieber Herr Precht.
Ich habe gerade, im Zuge (m)einer kinderfreien Woche, eine Folge von Jung und Naiv vom September diesen Jahres geschaut. Und es war mir eine Freude, natürlich, und ich bin froh, und staune auch immer, daß wenn ich mir dann mal den Luxus gönne, mich ein wenig ins Weltgeschehen und den Diskussionen darum hineinzuklicken, daß ich dann bei so etwas wie dem eben gesehenen Video herauskomme. Wie dem auch sei, dieses Video brachte mich dazu, Ihnen einen in mir schon lange reifenden Gedanken nieder zu schreiben: Ein Gedankengang, viel mehr, nämlich zu Ihrer, in dem Interview mit Tilo Jung eigentlich nur kurz angeschnittenen Frage nach dem Sinn des Lebens. Es ging wie gesagt in dem Gespräch auch nicht lange um diese Frage, aber eines Ihrer Bücher trägt diese Formulierung zumindest im Titel. (Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens…) Ich habe es nicht gelesen. Dazu müsste ich wahrscheinlich ein gänzlich kinderfreies Leben führen, oder beim Ausschreiben zur Grundeinkommens-Studie gewinnen. 😉 Wie dem auch sei, ich möchte Ihnen unbedingt kurz diesen einen Gedanken(strang) schreiben. (Mögen die nicht messbaren Algorithmen dieses Lebens entscheiden, ob Sie diese Zeilen je lesen werden…)
Bei dieser Frage, nach dem “Sinn des Lebens”, an die wir uns – gefühlt – immer nicht so gerne wagen, (irgendwie scheint sie in ihrer Größe zu.. philosophisch oder „schwer“, im Sinne von gewichtig zu sein…) bei dieser Frage ärgert mich die ganze Zeit ein Fakt, der meiner Meinung nach dazu führt, daß wir diese wie ich finde nicht unwichtige Frage meiden, umschiffen oder auf den Stapel der Dinge legen, über die man bei einem Bier und mit etwas Humor an einem See im Urlaub mal spekulieren kann, die aber in meinem realen, alltäglichen Leben keine Rolle spielt, oder kein Platz hat. Und der Fakt, der mich dabei ärgert, ist die Definition oder das Verständnis des Wortes „Sinn“, die, bzw. welches wir meiner Meinung nach davon haben. Meinem Empfinden nach ist derzeit die Frage nach dem Sinn von etwas immer auch eine Frage nach einer Art Berechtigung. Eine Art Legitimation der Existenz. Hat etwas einen Sinn, dann ist es gut, fühlt sich gut an, dann ist es “richtig”. Und hat etwas keinen Sinn, dann verliert es irgendwie an Existenzberechtigung. Das ist ja erstmal in vielen Fällen äußerst logisch, denn wenn es keinen Sinn ergibt, daß ich seit einer Stunde auf meine Verabredung warte, dann ist es auch nachvollziehbar, daß ich dann gehe, weil mich das weitere Warten innerlich frustriert. Wenn aber also nach dem Sinn des Lebens gefragt wird, haftet dem immer an, daß ich meinem Leben, meiner Existenz, irgendwie einen gesamtheitlichen Grund geben muß, oder eine Art Ziel, einen Inhalt. Und dem haftet natürlich auch an, daß, wenn ich auf dieses Problem keine Lösung finde, es sich eigenartig leer anfühlt, und die Frage nahe liegt, was alle untergeordneten Handlungen und Entscheidungen in meinem Leben dann für einen Grund haben, und ob nicht alles ganz anders getan oder entschieden werden könnte. Und es haftet dem außerdem an, daß meine Existenz hier auf diesem Planeten ohne Bedeutung sein könnte, was sich natürlich unangenehm anfühlt. (Selbst wenn ich auf die Frage eine Antwort finde, wenn ich also einen Sinn im Leben sehe, lägen auch die Fragen nah‘, was ich mache wenn ich das Ziel erreicht habe, oder was ich mache wenn es sich als Irrtum herausstellt…)
Ich behaupte also, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens immer eine etwas schwer zu greifende Schwere bekommt, solange wir “Sinn” als etwas definieren, was nicht viel mehr tut, als in seiner Anwesenheit eine Art Berechtigung und in seiner Abwesenheit eine Art Leere herstellt.
Und vielleicht haben Sie darüber schon einige ausführliche Stunden nachgedacht und diesen Gedankenkomplex hinreichend durchforstet, vielleicht haben Sie sogar längst irgend ein Buch darüber geschrieben, und ich habe von all dem nichts mitbekommen. Vielleicht ist das alles für Sie eine etwas zeitraubende und wenig bedeutsame Überlegung, das wäre mir ein wenig unangenehm, aber es würde den Drang Ihnen das folgende noch mitzuteilen nicht mindern:
Denn ich finde die Frage, oder besser die Antwort auf die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ keine unwesentliche, auch für unser aller Zusammenleben! Aber eben aus einer Kameraperspektive, die diese Frage etwas anders versteht: Die nämlich die Frage von ihrer Wertung und ihrer Existenzberechtigung befreit, und vielmehr nach dem Prinzip des Lebens fragt. Wenn ich also viel weniger frage, warum ich lebe, sondern: nach welchen Gesetzmäßigkeiten Leben an sich funktioniert! Welchen Prinzipien folgt also alles, was lebt? Das zieht nun natürlich zwangsläufig nach sich, den Begriff „Leben“, definieren zu müssen. Und das hat sicher schon der eine oder die andere vor mir getan, und ich habe wahrscheinlich auch davon keine/n gelesen. Ich habe sie alle nicht gelesen, die Heideggers und Kants und Descartes und Metzingers und Arendts und Prechts (doch, von dem hab ich „selbst Denken“ gelesen. Kam damals genau zur richtigen Zeit das Buch, war super!), und vielleicht bin ich größenwahnsinnig zu glauben, die Gedanken die ich habe, hätte vorher noch niemand gehabt. Aber ich muß das ja auch alles nicht gelesen haben, finde ich, um solche Zeilen verfassen zu dürfen, es gibt ja auch noch ein paar andere Bildungshintergründe, aus denen heraus man philosophisch werden darf, wie Kinder kriegen zum Beispiel. Wie dem auch sei, wenn ich das jetzt einfach mal so aus meiner wie auch immer gearteten Perspektive, und meinetwegen sehr spielerisch, beschreibe, wie ich es denke: Wenn ich „Leben“ nicht sehe als das Existieren oder Handeln. Sondern wenn ich frage: was vereint alle Wesen, die leben. Und wenn ich das jetzt zum Beispiel mal eher biologisch sehe, und sage:
Alles was lebt: 1. wechselwirkt mit seiner Umwelt, 2. organisiert und reguliert sich selbst (soweit ich die Homöostase bisher verstanden habe, liebe ich dieses Gedankenfeld…), es versucht also immer einen Gleichgewichtszustand aufrechtzuerhalten, 3. alles was lebt ist reizbar, das heißt es re-agiert (damit auch) immer auf seine Umwelt, 4. alles was lebt, will sich fortpflanzen oder reproduzieren, das heißt auch, es will sich selbst in gewissem Rahmen erhalten, und, es will 5. auch das, was es kann oder gelernt hat, weiter geben (Vererbung) und es folgt last but not least 6. außerdem immer dem Bedürfnis des Wachstums im Sinne einer (Weiter)Entwicklung. (Und ich sehe hier nicht unbedingt das Bedürfnis, aus etwas immer mehr zu machen, genauso wie ein Kirschkern nicht zwangsläufig ein immer größerer Kirschkern werden will, sondern ein Kirschkern will sich in Richtung eines Baumes ent-wickeln, es will die Informationen, die es in sich trägt, zu einer Realität werden lassen, dem Kirschbaum.)
Wenn wir uns also in irgendeiner Form darauf einigen könnten, welchen Prinzipien das Phänomen „Leben“ folgt, welche Mechanismen demnach auch allen Wesen, die leben, inne wohnen, wie zum Beispiel (!) diese o.g. biologischen Prinzipien. Dann könnte ich doch relativ einfach fragen: Hat mein Leben einen Sinn, oder nicht. Das wäre dann aber eben nicht die Frage: hat mein Leben eine Berechtigung, oder nicht, sondern die Frage wäre dann vielmehr: folge ich, als Wesen, welches lebt, den Prinzipien des Lebens?
Außerdem könnte ich mich dann auch vor einigen größeren Diskussionen oder Streits erst einmal fragen: Will ich denn leben? Befürworte ich das Leben, halte ich es für erstrebenswert, dem Prinzip des Lebens zu folgen? Wenn sich unsere Antworten in diesem Punkt unterscheiden, könnten wir uns demnach auch einen langwierigen Streit ersparen, denn niemand „muß“ ja Leben befürworten. Aber wenn wir uns vorab darauf einigen würden, daß wir das Leben erstmal wollen, oder erhalten wollen, den Prinzipien von “Leben” also folgen wollen, dann müssten wir doch „nur“ noch fragen: Gut, und was von dem was wir tun oder nicht tun, erhält also das Leben, und was tut es nicht. (Das läge auch die wie ich finde schöne Alternative zum Begriff „richtig“ oder „falsch“ nahe, man könnte da dann eher fragen: ist etwas für oder ist es gegen das Leben!).
Und bei dieser Fragestellung ist es doch dann relativ (!) einfach, zu sehen, daß ein Wunsch nach permanentem Wachstum, der kein Kreislauf ist, sondern ein lineares Ins-Unendliche-Streben, das Leben langfristig nie erhält, sondern völlig gegen das Leben gerichtet ist. Oder natürlich, daß endliche Rohstoffe aus der Erde zu ziehen dem Prinzip Leben widerstrebt. Daß mehr Bäume zu roden als nachwachsen können auch nicht dem Prinzip “Leben” folgt. Oder auch, daß immer Recht haben zu wollen in einer Kommunikation, nicht dem Prinzip des Re-agierens folgt, sich da auch überhaupt nichts fortpflanzt und da weder bei mir selbst noch beim Andern sich irgendwas weiterentwickelt. Oder daß das Ziehen von Grenzen unter einigen Gesichtspunkten dem Prinzip des Lebens sehr folgt, wenn es schützt, wenn es sich abgrenzt um beispielsweise zu wachsen oder zu heilen, daß aber eine andere Form der dauernden Abgrenzung dem Prinzip des Lebens überhaupt nicht folgt, weil es Diversität verunmöglicht, weil es auf lange Sicht auf Inzucht hinaus läuft und da auch nichts mehr in Beziehung gehen kann. Ein Erdbeerfeld zu pflanzen kann für das (Prinzip) Leben sein, ihm also zuträglich, Strawberry fields forever wäre aber irgendwann gegen das (Prinzip) Leben. Gewalt ist wahrscheinlich in den meisten Fällen dem Prinzip des Lebens äußerst abträglich. Mich aber mit Gewalt gegen die Vernichtung meines Lebensraumes wehren, könnte in manchen Fällen aus der Perspektive des “Prinzips Leben” aber vielleicht nachvollziehbar sein. Arbeitsplätze zu schaffen wäre dann nicht per se ein Allheilmittel für alles was lebt, sondern es müsste gefragt werden, was tut denn der Mensch, der da arbeitet? (Entwickelt er sich oder irgendetwas weiter, oder hält er einen gegen das Leben gerichteten Mechanismus am Laufen?). Das ganze Gebiet der Ernährung müsste nicht mehr hinsichtlich der Frage betrachtet werden, ob vegetarisch zu essen richtig oder falsch ist, sondern zum Beispiel nach der Frage, wie viel Fleischkonsum ist sinn-voll, folgt also den Prinzipien des Lebens, und ab wie viel davon konterkarieren wir das Prinzip Leben damit? Ich könnte die Liste noch eine Weile lang fortsetzen, dessen, was also das Prinzip Leben bejaht, und was sich dem Prinzip leben entgegenstellt. Wenn wir uns also, und dabei ist es vielleicht sogar unerheblich, ob ich das individuell betrachte oder gesamtgesellschaftlich, viel weniger fragen: ist mein Leben gut, hat es einen Sinn, daß ich hier existiere, hat mein oder unser Leben eine Bedeutung, sondern wenn ich mich stattdessen frage: folgt mein Handeln oder die Summe meiner Entscheidungen dem Prinzip Leben, dann wäre doch die Antwort genau darauf durchaus interessant, und lohnte es sich damit zu stellen, oder nicht?
So. Lieber Herr Precht. Dies ist also mein Gedankengang, den ich schon seit wirklich geraumer Zeit mit mir herumtrage, und den ich nun endlich mal verschriftlicht und in die Welt geschickt habe. (Und sei es nur ein selbst-therapeutischer Zweck, dem das Ganze hier gefolgt ist, so war es für mich, glaube ich, doch sehr dem Leben zuträglich, denn ich habe mich durchaus beim Schreiben dessen ein wenig selbst reguliert, habe auf Reize meiner Umwelt reagiert, habe diesen Gedanken vielleicht sogar ein wenig fortgepflanzt (und sei es nur in mir…), habe mich irgendwie auch um einen Nanometer vererbt, zumindest potentiell, habe mich selbst beim Schreiben definitiv ein wenig weiterentwickelt und vielleicht wechselwirke ich sogar damit ein wenig mit meiner Umwelt. Wer weiß 🙂
Ich danke Ihnen fürs (eventuelle) Lesen bis hier hin.
Mit den besten Grüßen und nicht ohne meine Hochachtung,
Martha Laux
(Dresden, 28.10.2020)