Es beginnt mich zu nerven. Es beginnt alle zu nerven. Wenn ich nicht selbst ein Homo Sapiens wäre, und wenn ich nicht so verdammt soziophil wäre, mir würde allmählich der Geduldsfaden reißen. Dieser pubertierende Homo Sapiens. Auf einem Flyer in meinem Briefkasten steht Es reicht. Oder irgendsowas. Jetzt werden wir langsam richtig wütend. Aber was ist denn das für eine Wut? Wo geht die denn hin? Ich seh sie nicht. Ich schaue kein Fernsehen, auch keine Nachrichten, kein Youtube. Da ist überall nur diese alberne Wut gegen irgendwen da oben. Das langweilt mich. Und ja. Ja. Durchatmen. Es stimmt. Ich habe keinen Einzelhandel, kein Unternehmen, und bestimmt auch kein Hotel, ich habe keinen Friseursalon und kein Bekleidungsgeschäft was gerade steil den Bach runter geht und bald weder meine Wohnung noch essbares Gemüse bezahlen kann. Ich habe das nicht und wahrscheinlich sähe ich die Welt dann anders. Aber jeder sähe die Welt anders, würde er in einer anderen Leben. Herr im Himmel. Ich finde auch nicht mal, daß wir einander nicht zuhören. Aber wir hören uns selbst nicht zu. Wir lauschen nicht in uns hinein. Wir haben irgendwas in uns drin, meinetwegen auch Wut, ich habe überhaupt absolut gar nichts gegen Wut. Aber wir lassen sie nicht raus. Wir schießen sie irgendwohin, um sie loszuwerden. Wir lassen sie nicht. Und auch nicht raus. Wir wollen sie aus unserem System eliminieren ohne sie anzusehen. Wir sehen uns nicht im Spiegel an. Wir haben keinen Mut uns selbst zu lieben. Wir reden uns gut zu. Wir optimieren uns. Wir ignorieren uns. Wir sanktionieren uns. Wir rechtfertigen uns. Und wir sind unehrlich mit uns. Denen da oben, einem Fremden, die Meinung zu sagen, die Wut zu zeigen, auf einem Demoschild, einem Telegram-Kanal, einer Unterschriftenliste, das ist viel leichter, als einer Freundin. Oder sich selbst. Auf einer Yogamatte oder im Spiegel oder an Papas Geburtstag. Wir sind einsam und das Leben ist schwierig wenn man sich einmal beginnt Fragen zu stellen. Vielleicht hat ja Querdenken so viele Menschen versammelt, weil es wieder eine Hoffnung gab, endlich Freunde zu finden. Gleichgesinnte. Ein neuer Anfang. Éine neue Euphorie. Aber auch diese Freunde lädt man irgendwann zu sich nach Hause ein. Und dann stellt man sie seinen Nachbarn vor. Oder den Kindern. Oder den Eltern. Und dann wird es wieder die alten Konflikte geben. Weil wir es sind. Weil wir fühlende Wesen sind. Weil wir Menschen sind. Weil wir Liebe suchen. Weil wir lieben wollen. Und ich habe die ganze Zeit schon gesagt, daß dieses Deutschland zu groß ist. Zu groß um darauf stolz zu sein. Zu groß um mich darin heimisch zu fühlen. Und viel, viel zu groß für einen Konsens. Demokratie stellt keinen Konsens her. Aber wir sehnen uns nach Konsens. Nach Übereinstimmung. Nach Resonanz. Nach einem zu Hause. Doch nicht jeden Tag. Doch nicht immer. Um Himmels willen. Aber auch. Nach sinnvollen Entscheidungen. Aber mit 80 Millionen Menschen kann man doch keine Entscheidung treffen, die für alle sinnvoll ist. Wie soll denn das mathematisch gehen??? Und was ist denn das für eine Entscheidung, die für die einen so halb geil und für die anderen so halb scheiße ist? Das ist doch keine sinnvolle Entscheidung? Und die ganze Zeit leben wir in so einem riesigen Konstrukt, was dann natürlich irgendwen braucht der das organisiert und steuert und lenkt, und dann regen wir uns auf, daß das scheiße ist, wohin da gelenkt wird. Aber das ist doch die ganze Zeit schon scheiße. Aber jetzt proklamieren es plötzlich die einen und ignorieren es die anderen. Der Homo Sapiens hat eine überdimensionale Kamera auf eine Krankheit gehalten und jeden noch so kleinen Schritt von ihr gefilmt und seine Daten dann mit Spezialeffekten auf absolut jeden Bildschirm dieser Erde übertragen. Da muß man ja Angst kriegen. Und da muß natürlich auch irgendein Entscheidungsträger, der zu jedem Bild was sagen soll und dann bitte mit seiner Macht genau richtig umgehen und die absolut richtige Entscheidung treffen soll, der muß doch dann die falsche Entscheidung treffen, es kann doch dann überhaupt keine richtige Entscheidung geben. Das waren doch auch davor schon die ganze Zeit bescheuerte Entscheidungen. Natürlich macht das alles was mit uns. Herrgott ich versteh das alles nicht. Dieses bekackte Covid und diese Wut die ich nicht sehe weil ich nicht sehe worauf sie ruht. Ich sehe keine Trauer darunter, keine Freiheit, keine Ohnmacht, keine Angst, nur ein bisschen Einsamkeit vielleicht. Aber die ist ja jetzt auch schnell wieder getilgt weil man ja jetzt neue Freunde gefunden hat oder sich mit den alten in sein schwarz-weiß-Bild von der Welt zurückgezogen hat. Und weil es überall Internet gibt. Jetzt, wo ich mir endlich etwas Ruhe wünsche, um mich selbst zu verstehen, da wird alles so laut und so komisch und so schnell. Und das alles in diesem absurden Stillstand eines Lockdowns, der es unseren Bedürfnisse so leicht macht, auf Bildschirme und Gedankenkonstrukte zu fliehen und sie in Alkohol und THC zu ertränken. Den ersten Lockdown fand ich wunderschön. Die Welt stand still und die Veränderung roch nach tatsächlichem Innehalten. Der zweite Lockdown war light. Der abgekämpfte Postbote brachte Aspartam ins Haus und so schmeckte das Essen trotzdem süß. Der dritte Lockdown wird ein Gefängnis mit offenen Türen sein. Wir werden uns wöchentlich selbst darin testen, wem wir am besten die Schuld geben können. Und wir werden denen die Schuld geben, die an den Strippen ziehen. Wir werden denen die Schuld geben, die sich nicht ordentlich an den Strippen festhalten. Und wenn nichts mehr bleibt können wir uns ja immer noch selbst die Schuld geben. Wer hat es noch gleich gesagt?: In der Geschichte passiert immer alles zweimal. Das erste mal als Tragödie. Das zweite mal als Farce. Vielleicht kommen wir doch noch irgendwann einmal aus unserer pubertären Phase heraus, und vielleicht werden wir dann in der Lage sein, den Zustand zwischen schwarz und weiß auszuhalten.