lautdenken

Mehr ist wenig

Und wir tanzen jeden Abend wieder. Sachte. Wir suchen weiter, auch nach einer neuen Zeit. Wir verabreden uns, wir „gehen aus“. Wir suchen Partys, fragen nach Veranstaltung. Nach Festen. Nach Events. Oder wer heute noch etwas zu Kiffen hat. Und an jeder Ecke, ev’ry Weekend, findet etwas statt. Zumindest in der Stadt. (Die mir zuwider wird, allmählich, aber wirklich.)

Und wir suchen weniger nach mehr. So scheint mir. Ich zumindest, suche weniger. Denn wenn ich suchte, war es immer etwas, was ich ahnte, sah, erspähte, weit entfernt. Und davon suchte ich dann: mehr. Die Gier, sie ist nicht böse. Rastlos, maybe. Unruhig. Doch die Gier, sie ist nur Hunger. Und der Katze, ausgehungert, ihr gib niemals einen vollen Teller. Gewöhn‘ den Magen langsam an die Nahrung. Sag ihr sacht: Dein Hunger wird gehört.

Und vielleicht, tat uns der Stillstand gut. May be. Der Lockdown. Oder vielleicht etwas ganz andres. Doch heute, schien mir, (und es ist ja immer Wahrheit, worauf der Scheinwerfer gerichtet ist…), heut da schien mir: Mehr ist wenig. Und wir brauchen mehr. Von Zeit zu Zeit. Doch Mehr, ohne das Innehalten, es ist wenig. Ein bisschen mehr wird Viel, wenn ich mein Herz daran gewöhne. Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde, und lass dich, wenn du willst, auf etwas neues ein.

Du liebst nicht mehr, Lamm, als der Wolf

Da muß es erst nachts um eins werden. Und da müssen wahrscheinlich erst drei Jahre vergehn, die wir getrennt sind. Und dennoch sind wir immer noch nicht ganz getrennt. Wir trennen uns noch immer. Und nachts um eins, da löst sich wieder ein ganz kleines Stück. Schwenke ich die Kamera ein Stück hinüber, und lockere somit ihren Griff, und löse noch ’ne Haut von dieser Zwiebel ab, die mir noch immer ein wenig in den Augen brennt. Herrje. :

Du, der du immer der Sanftmütige warst. (Und bist.) Der Verstehende. Der mich bedingungslos liebende. Der Akzeptierende. Der Ruhepol. Und ich die, die immer wollte. Immer suchte. Nie zufrieden war. Und sich entwickeln wollte. Wünschte. Sehnte. Suchte. Und ich, mit meiner Suche, Deine Ruhe nur verstärkend. Und anfangs war mir Deine Ruhe solch ein Hafen, und alles Sehnen floß durch meine Hände, meine Haut, auf Deinen Körper. Und Du, so durstig nach der Nähe, durftest nehmen, haben, das Geschenk behalten. Und von der Nähe eigentlich nie satt, auf die Nähe immer hoffend, dafür gabst Du mir, was Du am besten konntest: Du warst Ruhe. Akzeptanz. Hörtest zu. Warst Hafen. Liebtest mich bedingungslos. Anscheinend. Aber dann, mit meinem Wollen, Suchen, Sehnen, suchte ich natürlich auch bei uns. Bei Dir. Wollte weiter wachsen, wollte mehr, als das was ist. Wollte Hand in Hand die nächste Stufe. Aber Du, Du nicht. Warum Stufe. Und wohin. Hier ist es doch so warm. So gut. So nah. Lass uns doch Zeit und so. Ich: sehne mich aber so sehr. Nun ja. Und wenn ich wollte, hieltst Du nach und nach den Atem an. Schon wieder wollen, mehr als Nähe, Sie will immer so viel. Schon wieder. Und wo ich erst noch von der Welt etwas ersehnte, suchte ich jetzt was in Dir, konkret, in Dir. Und mir. In uns. Wünschte mir etwas, was noch nicht war. Was ich nicht sah. Und aber sehen wollte. Und da begann der Kreislauf, den wir vielleicht von Anfang an schon tanzten. Ich suchte, wollte, und Du hieltst den Atmen an. Und dein Zögern war mir eigentlich nur Wind in meine Glut und oben einen Deckel drauf. Warten. Nicht wollen dürfen. Weil ich Dich ja ganz genau so lieben will wie einst. Wie anfangs. Wie Du bist. Ich will nicht immer wollen. Will nicht immer suchen. Will die Nähe wieder die so frei, so ohne jedes wollen explodieren konnte. Aber die Sehnsucht in mir wuchs, mit jedem Zögern, jedem Schweigen, jedem Warten Deinerseits. Und die Unterschiede die uns lockten, uns verschmelzen und dann explodieren ließen, wurden uns also zum Verhängnis.

Und jetzt sind wir längst getrennt. Und noch immer, mehr denn je, macht es mich rasend, wenn Du Dich mir entziehst. Dich verweigerst, jeder Frage, jedem Zorn, jedem Ärger, jedem Vorwurf. Ausweichst. Aufschiebst. Heute werd ich Deine Email nicht mehr lesen. Und ich atme. Schweige. Schließe meine Augen. Denn es ist Dein gutes Recht. Es ist Dein Recht und ach ich weiß doch um den blöden Mechanismus. Dass je mehr ich will, je mehr ich ziehe, desto mehr: you disappear. Verschwindest. Bringst zum Erstarren jede Leichtigkeit. Und so zwingst Du mich, nichts mehr zu wollen. Du bist nicht ungerecht. Niemals. Was Du mir zugesagt hast hältst Du, und jede Regel, jede Abmachung die steht. Nur: wenn ich Dich anders will. Wenn ich zornig bin, entkräftet, wütend, müde, angenervt. Dann bist Du fort. Dann bist Du Luft. Atem, der gefroren ist, sich nicht mehr regt.

Ich bin es müde. Dieses Kämpfen. Und es ist dumm. Ich möchte nur, der Fairness halber, hier erwähnen, dass du genauso kämpfst wie ich. Dass Dein Erstarren, all Dein Rückzug, Deine Stille, dieses schwarze Loch, dass es genauso kämpft wie ich. Dass all mein Wollen, Sehnen, Warten, Wüten, Hoffen, dass es auf ganz genau der selben Münze steht, nur rückseitig, wie Deine Lähmung. Deine Ohnmacht. Deine Angst. Dass auch Dein Rückzug, genauso wie mein Toben, keine Grenze zieht, und gar nichts ändert. Und dass ich sehr wohl geliebt hab, wenn ich sehnte, dass ich bis oben hin voll Liebe war, mitsamt der ganzen Suche und dem Wollen. Nur als ich begann zu hoffen, dass Du mein Sehnen minderst, als ich begann nur das zu sehen, was besser wär‘, wenn du ein andrer wärst, da war mein Herz im Kopf, und die Liebe konnte nirgens hin. Und ebenso hast Du mich in der Tat geliebt, als Du gelauscht hast, meinem Drängen, meiner Suche nach den schön’ren Orten dieser Welt. Aber als es Dich auch einschloss, meine Suche, und als Du den Atem anhieltst, da, da hörtest auch Du auf, zu lieben. Denn Liebe atmet. Und zieht Grenzen. Liebe flieht nicht und sie kennt die Wut. Aber Du liebst mich nicht bedingungslos, wenn Deinem Herz der Atem stockt und Du versuchst, dem nächsten Vorwurf zu entflieh’n. Du liebst nicht, wenn Du Angst hast. Und ich lieb Dich nicht, wenn ich darauf warte, dass Du endlich mutig bist.

Kunst, Struktur und Alkohol

Ich sollte Gitarre üben oder längst im Bett sein. Stattdessen mische ich dem restlichen Portwein in meinem Blut noch etwas Sekt hinzu und schreibe. Schön, genauso muß es sein, höre ich die postbohemischen Spätaufsteher sagen, als wäre Kunst irgendwie verbunden mit Rotwein und verrauchten Zimmern. Warum nur, habe ich mich gestern und gerade eben wieder gefragt, greife ich nach einer alkoholischen Abstinenz, die meinen Geburtstag und ein ganzes Festival überstanden hat, dann doch wieder zum Alkohol, und zwar just dann, wenn irgendetwas aus mir heraus und das auch gerne Kunst genannt werden will? Ich glaube wir greifen nicht zwangsläufig zum Alkohol aus Langeweile oder um Probleme zu ertränken, oder um mit einem Strom mitzuschwimmen. Ich glaube Alkohol ist eine Droge, die auch jedwede Intensität in uns leichter in einen Kontext setzen oder einfach leichter nehmen lässt. Vielleicht trinken wir Alkohol nicht, damit etwas intensiv wird, sondern auch weil etwas intensiv ist. Weil wir damit keinen Umgang kennen gelernt haben, weil wir dann nicht wissen wohin mit uns, wohin mit Intensität. Und vielleicht trinken wir Alkohol nicht, damit irgendwas intensiv-kreatives aus uns heraus kommt, sondern weil es in uns drin ist, und wir damit nicht umgehen gelernt haben, daß es raus will, daß es raus kommt und was wir machen wenn es draußen ist. Weil wir spüren, da ist etwas in uns drin was hinaus will und der Alkohol dämpft die Wogen, setzt alles in einen beliebigen Kontext und lässt uns Intensität mit einer Leichtigkeit ertragen, die deren Gefühlsspitzen zulässt, ohne daß wir das Erlebnis in seiner Gesamtwelle großartig in unser System integrieren müssen. Vielleicht meinen wir, mit Alkohol sei ein Erlebnis mit mehr Freude oder Heiterkeit durchdrungen, aber in Wahrheit ist die Freude längst da, wir haben nur mit ihr keinen Umgang gelernt, keinen, der die Freude zulässt und uns davon berühren und erfassen lässt. Oder die Trauer. Oder die Intensität.

Nur die Krux an der Kunst ist, sofern man irgendwann entscheidet, sie in die Welt hinaus zu lassen, sie als vorzeigbaren Output seiner Selbst wissen zu wollen, daß sie, sobald sie einmal Output ist, dann auch in irgend eine Struktur muß, wenn sie denn sichtbar werden will. Wenn sie denn gezeigt können werden will. Sie muß in irgendeine Form gegossen werden, die verschenkt, verkauft, angeboten werden können muß. Die eine Hälfte der Fähigkeit eines Künstlers, der oder die davon leben können will, besteht in der Kunst selbst. Die andere Hälfte der Fähigkeit besteht darin, sie irgendwie präsentieren zu können. Die Bilder selbst sind vielleicht mehr oder weniger einfach gemalt, für die, die es beherrscht, aber bis die Bilder dann in einer Galerie landen, in einem Wartezimmer, einem Museum, an einer Wohnzimmerwand, dazu braucht es eine ganz andere Fähigkeit, als die des Malens, Zeichnens, Kreierens. Es braucht, neben dem Wille zur Selbstbehauptung, neben dem Ja zu sich selbst, auch: Struktur. Der Song lässt sich schreiben, leicht oder schwer, aber er lässt sich denken. Aber er muß dann auf eine Plattform, beworben werden, angepriesen, gegossen, in eine Form, hergestellt, aufgenommen, vertont, bearbeitet, ausgestellt, verschickt, gepresst, gerahmt, foliert, beschriftet werden. Die Idee selbst, sie berauscht mich schnell, auf dem Klo, beim Spazierengehen, während eines Gespräches, beim Yoga, in der Meditation, die Idee ist immateriell und intensiv bisweilen. Sie kommt mit, aber auch ohne Alkohol. Die Idee sie enthält Lust, sie enthält Liebe, sie enthält Zauber. Aber erst in einer Struktur wird sie greifbar. In Buchstaben. Rahmen. Einsen und Nullen. Im Material. Auf einer Leinwand. Erst dort wird dieser Zauber erkennbar. Transportierbar.

Und dieser Schritt ist es, den ich scheue. Denn in ihm werde ich sichtbar. Dieser Schritt ist es, der mich zum Alkohol greifen lässt. Denn ich habe noch keine Übung in ihm. Ich habe keine Übung mit der Intensität, die sich freisetzt, wenn etwas Form gewinnt. Wenn etwas implodiert. Und Halt gewinnt. Gestalt annimmt. Wenn ein Teil meiner Selbst sichtbar wird. Es gibt viel, sehr viel Struktur in dieser Welt. Sehr viel Form und Gestalt. Sehr viele Grenzen. Sehr viele Rahmen. Aber wenige von ihnen enthalten Zauber. In wenigen von ihnen ist Lust und Liebe sichtbar. Fühlbar. In wenigen von ihnen ist Wesen zu sehen. Doch das ist die Kunst. Zumindest die, die ich machen will. Struktur, in der das Leben weiterhin atmet. In der meine Lust sichtbar ist. In der Aspekte eines Wesens sichtbar werden. Ein Gegenstand, der lebt. Und dieses Gießen, in eine Form. Das schaffe ich bislang nur nachts viertel zwei. In Sekt getränkter Mut, der Schülerin ist. Flüssiges Koks, was mir sagt, daß ich das auf alle Fälle probieren darf. Daß ich es wert bin. Daß es auch irgendwie grad scheißegal ist, weil ich einfach Bock habe. Scheiß auf morgen früh.

Ach Ethanol. Du bist der Rollator für mein künstlerisches Rückgrat. Hab Dank für die Stütze bis hier hin. Ich möchte ohne dich gehen lernen.

Corona Tagebuch x punkt ypsilon

Ich weiß nicht mehr welche Version. Irgendwie programmierts mich langsam neu. So viel geschieht. Und doch im Außen noch alles scheinbar wie immer. Es ist zwei Tage vor der Bundestagswahl. Die Außenwelt und das Geschehen kommen näher an uns heran. Corona bricht die bisherigen Eindeutigkeiten von Zugehörigkeiten und Seiten auf und schwärmt in unsere Beziehungen. Und wir sind miserabel in unseren Beziehungen. Wenn uns irgendetwas das Genick brechen wird, wird es nicht Hochwasser und auch kein Virus sein. Sondern unsere Beziehungen. Vielleicht geschieht es nicht. Ich weiß es nicht. Aber ich habe das Gefühl wir sind hundsmiserable Autisten was unsere Beziehungen angeht. Und das ärgert mich an der AfD. Ich teile erschreckenderweise viele ihrer Meinungen, oder kann ihnen zumindest etwas abgewinnen, ich kann sie nicht per se dementieren. Aber jeden den ich von der AfD treffe will seine Haut retten. Seine zuerst. Und dann die der Seinesgleichen. Und das deprimierende ist, daß als Alternative dazu immer nur eine verpflichtende Solidarität steht. Ein Muss zum Wir. Eine Verurteilung des Egoismus. Eine Verpflichtung zum Sich-Öffnen. Und das funktioniert natürlich nicht. Ein Herz was sich nicht öffnen will vergewaltigt man, wenn man es zum Öffnen zwingt. Aber die AfD zieht die Mauern so sehr um das Individuum, daß keine Beziehung mehr möglich wird. Aber naja, scheiß auf die AfD erstmal. Jetzt erstmal. Auch ohne sie sind wir so erkrankt, finde ich. So verwundet und ungelernt. Beleidigt, verletzt, beschämt oder im besten Falle schüchtern. Und wir halten uns mehr und mehr an irgend einer Wahrheit fest. Wahrheit ist so beliebig geworden. Wir halten uns an irgendwelchen Argumenten fest wie an losen Ästen. Und der öffentliche Diskurs, die landläufige, flächendeckende und von irgendeiner seltsamen Schablone der Allgemeinheit abgedeckten Meinung hat sich genauso für eine Wahrheit entschieden. Und welche Argumente wir finden, steht lange fest bevor wir sie suchen. Unsere Meinung steht lange fest noch bevor wir die passenden Argumente dafür finden. In uns bewegt sich etwas, unterhalb unseres Bewusstseins, unterhalb dessen, wo wir hinsehen, eine Sehnsucht, eine Angst, eine Unzufriedenheit, und die ist es, diese Gefühle sind es, dieser Ort des Bewusstseins ist es, aus dem heraus dann ein Arm nach der dazu passenden Wahrheit greift. Und der Markt ist so bunt. Es gibt inzwischen jede Wahrheit, ich weiß nicht mehr wie ich sie unterscheiden kann. Ich bin nicht mehr imstande die richtige von der gefakten zu unterscheiden. Was mich viel mehr interessieren würde ist, welcher Teil in Dir hat zu dieser Wahrheit gegriffen? Aber dort sehen wir nicht hin. Wir sehen nicht in uns hinein. Wir schauen nicht mehr in den Spiegel. Wir stehen da und sind überzeugt. Und wir kämpfen oder scheuen uns vorm Kampf, wir fliehen oder verharren. Hauptsache wir müssen nicht mehr hinsehen. Wir finden die Wahrheit, daß die Klimabewegung gelenkt ist. Wir finden die Wahrheit, daß dieses Virus gefährlicher ist als andere. Wir finden die Wahrheit, daß das einigen Entscheidungsgebern im Hintergrund gerade sehr gelegen kommt, was hier passiert. Und diese Wahrheiten lassen sich alle finden. Sie lassen sich finden! Ich bin jedenfalls nicht imstande sie zu widerlegen. Aber wir wollten sie finden. Und wir haben sie gefunden. Was eigentlich in uns vor geht, die Unzufriedenheit, die schon so lange und hartnäckig in uns rumort, und die wir einfach nicht imstande sind zu bewältigen, die schauen wir nicht mehr an. Die haben wir ja auch schon so oft angesehen. Irgendwann muss ja mal gut sein. Die wabert in unserem Inneren und bildet Metastasen, aber jetzt haben wir eine Antwort. Dort draußen ist die Antwort. Hauptsache DORT DRAUSSEN. Im Tun, im Machen, im Unterlassen, im Agieren, im Weitergehen, im Kämpfen, im Rauchen, im Arbeiten, im Trinken, es gibt immer was zu tun, jetzt mehr denn je. Aber uns. Uns schauen wir nicht im Spiegel an. Wir halten nicht inne und bewohnen unseren eigenen Körper, schenken der eigenen Unzufriedenheit einen Kanal, einen Kanal ohne Schuld. Weil alles immer weiter gehen muß. Und weil wir ja so gut Bescheid wissen. Wir wollen nicht irren. Wir wollen nicht schwach sein. Wir wollen nicht fühlen.

Aber was, wenn wir uns irren?

Corona Tagebuch 2.1.

Es beginnt mich zu nerven. Es beginnt alle zu nerven. Wenn ich nicht selbst ein Homo Sapiens wäre, und wenn ich nicht so verdammt soziophil wäre, mir würde allmählich der Geduldsfaden reißen. Dieser pubertierende Homo Sapiens. Auf einem Flyer in meinem Briefkasten steht Es reicht. Oder irgendsowas. Jetzt werden wir langsam richtig wütend. Aber was ist denn das für eine Wut? Wo geht die denn hin? Ich seh sie nicht. Ich schaue kein Fernsehen, auch keine Nachrichten, kein Youtube. Da ist überall nur diese alberne Wut gegen irgendwen da oben. Das langweilt mich. Und ja. Ja. Durchatmen. Es stimmt. Ich habe keinen Einzelhandel, kein Unternehmen, und bestimmt auch kein Hotel, ich habe keinen Friseursalon und kein Bekleidungsgeschäft was gerade steil den Bach runter geht und bald weder meine Wohnung noch essbares Gemüse bezahlen kann. Ich habe das nicht und wahrscheinlich sähe ich die Welt dann anders. Aber jeder sähe die Welt anders, würde er in einer anderen Leben. Herr im Himmel. Ich finde auch nicht mal, daß wir einander nicht zuhören. Aber wir hören uns selbst nicht zu. Wir lauschen nicht in uns hinein. Wir haben irgendwas in uns drin, meinetwegen auch Wut, ich habe überhaupt absolut gar nichts gegen Wut. Aber wir lassen sie nicht raus. Wir schießen sie irgendwohin, um sie loszuwerden. Wir lassen sie nicht. Und auch nicht raus. Wir wollen sie aus unserem System eliminieren ohne sie anzusehen. Wir sehen uns nicht im Spiegel an. Wir haben keinen Mut uns selbst zu lieben. Wir reden uns gut zu. Wir optimieren uns. Wir ignorieren uns. Wir sanktionieren uns. Wir rechtfertigen uns. Und wir sind unehrlich mit uns. Denen da oben, einem Fremden, die Meinung zu sagen, die Wut zu zeigen, auf einem Demoschild, einem Telegram-Kanal, einer Unterschriftenliste, das ist viel leichter, als einer Freundin. Oder sich selbst. Auf einer Yogamatte oder im Spiegel oder an Papas Geburtstag. Wir sind einsam und das Leben ist schwierig wenn man sich einmal beginnt Fragen zu stellen. Vielleicht hat ja Querdenken so viele Menschen versammelt, weil es wieder eine Hoffnung gab, endlich Freunde zu finden. Gleichgesinnte. Ein neuer Anfang. Éine neue Euphorie. Aber auch diese Freunde lädt man irgendwann zu sich nach Hause ein. Und dann stellt man sie seinen Nachbarn vor. Oder den Kindern. Oder den Eltern. Und dann wird es wieder die alten Konflikte geben. Weil wir es sind. Weil wir fühlende Wesen sind. Weil wir Menschen sind. Weil wir Liebe suchen. Weil wir lieben wollen. Und ich habe die ganze Zeit schon gesagt, daß dieses Deutschland zu groß ist. Zu groß um darauf stolz zu sein. Zu groß um mich darin heimisch zu fühlen. Und viel, viel zu groß für einen Konsens. Demokratie stellt keinen Konsens her. Aber wir sehnen uns nach Konsens. Nach Übereinstimmung. Nach Resonanz. Nach einem zu Hause. Doch nicht jeden Tag. Doch nicht immer. Um Himmels willen. Aber auch. Nach sinnvollen Entscheidungen. Aber mit 80 Millionen Menschen kann man doch keine Entscheidung treffen, die für alle sinnvoll ist. Wie soll denn das mathematisch gehen??? Und was ist denn das für eine Entscheidung, die für die einen so halb geil und für die anderen so halb scheiße ist? Das ist doch keine sinnvolle Entscheidung? Und die ganze Zeit leben wir in so einem riesigen Konstrukt, was dann natürlich irgendwen braucht der das organisiert und steuert und lenkt, und dann regen wir uns auf, daß das scheiße ist, wohin da gelenkt wird. Aber das ist doch die ganze Zeit schon scheiße. Aber jetzt proklamieren es plötzlich die einen und ignorieren es die anderen. Der Homo Sapiens hat eine überdimensionale Kamera auf eine Krankheit gehalten und jeden noch so kleinen Schritt von ihr gefilmt und seine Daten dann mit Spezialeffekten auf absolut jeden Bildschirm dieser Erde übertragen. Da muß man ja Angst kriegen. Und da muß natürlich auch irgendein Entscheidungsträger, der zu jedem Bild was sagen soll und dann bitte mit seiner Macht genau richtig umgehen und die absolut richtige Entscheidung treffen soll, der muß doch dann die falsche Entscheidung treffen, es kann doch dann überhaupt keine richtige Entscheidung geben. Das waren doch auch davor schon die ganze Zeit bescheuerte Entscheidungen. Natürlich macht das alles was mit uns. Herrgott ich versteh das alles nicht. Dieses bekackte Covid und diese Wut die ich nicht sehe weil ich nicht sehe worauf sie ruht. Ich sehe keine Trauer darunter, keine Freiheit, keine Ohnmacht, keine Angst, nur ein bisschen Einsamkeit vielleicht. Aber die ist ja jetzt auch schnell wieder getilgt weil man ja jetzt neue Freunde gefunden hat oder sich mit den alten in sein schwarz-weiß-Bild von der Welt zurückgezogen hat. Und weil es überall Internet gibt. Jetzt, wo ich mir endlich etwas Ruhe wünsche, um mich selbst zu verstehen, da wird alles so laut und so komisch und so schnell. Und das alles in diesem absurden Stillstand eines Lockdowns, der es unseren Bedürfnisse so leicht macht, auf Bildschirme und Gedankenkonstrukte zu fliehen und sie in Alkohol und THC zu ertränken. Den ersten Lockdown fand ich wunderschön. Die Welt stand still und die Veränderung roch nach tatsächlichem Innehalten. Der zweite Lockdown war light. Der abgekämpfte Postbote brachte Aspartam ins Haus und so schmeckte das Essen trotzdem süß. Der dritte Lockdown wird ein Gefängnis mit offenen Türen sein. Wir werden uns wöchentlich selbst darin testen, wem wir am besten die Schuld geben können. Und wir werden denen die Schuld geben, die an den Strippen ziehen. Wir werden denen die Schuld geben, die sich nicht ordentlich an den Strippen festhalten. Und wenn nichts mehr bleibt können wir uns ja immer noch selbst die Schuld geben. Wer hat es noch gleich gesagt?: In der Geschichte passiert immer alles zweimal. Das erste mal als Tragödie. Das zweite mal als Farce. Vielleicht kommen wir doch noch irgendwann einmal aus unserer pubertären Phase heraus, und vielleicht werden wir dann in der Lage sein, den Zustand zwischen schwarz und weiß auszuhalten.

Corona-Tagebuch 2.0

Zwei Punkt Null. Corona ist in Deutschland etwa zehn Monate alt. In Großbritannien gibt es ein Ministerium für Einsamkeit. Corona hat mir Nils Koppbruch gebracht. n zwanzig Jahren werde ich diese Musik hören und die Erinnerung an mein Ich von 2021 wird mit jeder Note leise in meinen Zellen vibrieren als wäre es eine Woche her. Nils Koppbruch bekommt von alle dem nichts mehr mit und ich bin einsam. Ich sitze zwischen den Stühlen. Wir suchen immer ein Die-da! Wir suchen einen Schuldigen, es ist so viel einfacher damit. Wir suchen einen, wegen dem das alles so ist. Wegen denen da! (Deretwegen…) Weil die das alle so machen. Und ich fühle mich ein bisschen wie das kleine Kind, was ich war, als meine Eltern aufhörten sich zu lieben. Oder wie die junge Erwachsene, als ich ein paar Mal versucht habe, eine Party zu schmeißen und meine Freunde separiert in der Wohnung rumstanden und miteinander nichts anzufangen wussten und ich all die Funken, die nicht überspringen wollten in mir aufsammelte und aufgeheizt und einsam zwischen Sektgläsern, Bier, Joints und Wodka umherlief. Ich möchte Lieder schreiben für all die Seelen aber finde keine. Dieses Virus macht mich pessimistisch. Das nervt mich. Vielleicht verlieren wir das große Spiel ja doch irgendwann. Nun ja. Vielleicht muß ich auch verlieren lernen. Robert hat gesagt, der Homo Sapiens steckt schlicht mitten in der Pubertät. Und ich finde das erklärt einiges. Wir haben vor ein paar Hundert Jahren begonnen, unser Potential zu entdecken, und jetzt schießen wir völlig über’s Ziel hinaus. Wie ein hormonüberfüllter Teenager probiert der Mensch sich aus und testet seine Kräfte, und davon hat er in der Tat genug. Aber ungeübt und übermütig wie er ist brennt er aus Versehen fast sein Haus nieder. Und ist an diesem Tag absolut überzeugt von einer Wahrheit, die er am nächsten Tag durch die nächste, ebenso unumstößliche Wahrheit ablöst. Und er merkt’s halt selber nicht. Und zwischendurch ist er plötzlich dann jung und verletzlich und schüchtern und will seinen Kopf nur auf irgend einen Schoß legen. Und dann gibt er sich selbst an allem die Schuld und hasst sich und weiß doch nichts von Demut. Recht haben wollen wir. Hauptsache Recht haben. Und wenn eine andere etwas anderes sagt, dann bleiben wir stumm und im Stillen lästern wir. Was ist das für ein Blick, den wir uns da heimlich zulegen? Die Augen hinter den Augen zu Schlitzen verengt. Jede glaubt von sich die Wahrheit zu kennen, was maßen wir uns an? Abgesehen davon, daß ich schon immer eine Größenordnung von achtzig Millionen Menschen exorbitant zu groß finde, um irgendwelche sinnvollen Entscheidungen treffen zu können, möchte ich trotzdem nicht auf dem Posten sitzen müssen, der dann, wenn so eine Krankheit anrollt, auf die sich Milliarden von Kameras richten, irgendwelche Entscheidungen treffen muß. Natürlich sind da Entscheidungen dabei, die Nachteile haben. Logisch! Und natürlich sind die Menschen auf diesen Posten immer noch Menschen. Es sind immer noch Menschen, die müde sind nach zu wenig Schlaf, die sich selbst belügen, die dazu lernen, die Angst haben, die Sex haben oder Nähe vermissen. Und diese Menschen haben auch sicher besseres zu tun gehabt, als sich zu treffen und sich zu überlegen, wie sie jetzt am besten einen großen, gut durchdachten Komplott spinnen können, um endlich den Einzelhandel zu zerstören, ein Genom zu verändern und die Pharmaindustrie reich zu machen. Die haben auch einfach nur Entscheidungen getroffen. Und natürlich treffen sie Entscheidungen aus einem Wesen heraus, was in einem System groß geworden ist, in dem es um Recht haben geht und um Wachstum und in dem man niemals Fehler machen darf und wenn doch stellt man sie hinterher als die einzig mögliche Handlung dar. Ich glaube nicht an eine große Strippenzieherin. Aber ich glaube an unendlich viele Strippen, die alle miteinander verflochten sind. Es mangelt uns an Mut und an Empathie wie der Hälfte der Welt an Impfstoffen. Es mangelt an Mut, in einer großen Betriebsversammlung zu sagen, wartet mal, das fühlt sich nicht richtig an. Natürlich gibt es Menschen, die an einem einzigen Tag unfassbar weitreichende Entscheidungen treffen können. Aber diese Menschen stehen auch jeden Tag auf und begrüßen Menschen die lächeln auch wenn sie nicht wollen, sie gehen an einem Pförtner vorbei der meint er müsse ja auch von irgendwas die Miete zahlen, sie haben Sekretäre die nicht widersprechen, sie unterschreiben Verträge die jemand aufgesetzt hat und kriegen Kaffee gereicht von Menschen die meinen das müsse so sein. Ich glaube nicht, daß sich irgendjemand die Mühe gemacht hat, sich gegen mich zu verschwören. Aber ich glaube, daß Menschen auf sehr groben Unfug schwören. Ich glaube auch nicht, daß es Menschen gibt, die mich zwingen wollen, mich impfen zu lassen. Aber ich glaube, daß es Menschen gibt, die Gesundheit so komplex betrachten das Fernsehprogramm von Pro 7, und die sich dann an ihrer Industrie-medizin festhalten wie ein Teenger an seinem Handy.

Und so entfernen sich Menschen von meinem Herz, die ich doch eigentlich sehr gerne mag. Oder ich entferne mich von ihnen, weil ich nicht die richtigen Worte finde. Ich weiß es nicht. Aber ich fühle mich einsam unter Menschen die da so etwas wittern, im System, was ich nicht wittere. Und die plötzlich gegen die GEZ Gebühren sind, und ich hab irgendwie gar nicht mitgekriegt, was das mit Corona zu tun hat. Ich weiß bis heute immer noch nicht, wie ich diese Gebühren finde. Aber ich bin froh über arte. Und ich mag den Deutschlandfunk. Und wenn wir schon in Größenordnungen von achtzig Millionen Menschen denken müssen, dann finde ich es auch akzeptabel, daß wir alle Geld in einen Topf hauen um Leute zu bezahlen, die nicht für Danone oder Pro7 Informationen einholen. Und naja, logischerweise sind auch diese Menschen, die aus diesem Topf bezahlt werden, wieder: Menschen. Und auch die haben eine Wahrheit und sind manchmal wütend und auch die klicken bei manchen Überschriften schneller als bei anderen. Auch dort gibt es Strippen, herrje.

Und wie die junge Erwachsene die eine Party schmeißen wollte, und mir also bei den einen Freunden irgendwie das Herz zugeht, geh ich dann rüber zu den andern, und die schimpfen plötzlich genauso. Und ich krieg‘ ’nen Schreck und fühl mich noch ein Stück einsamer. Und bin irritiert. Ich glaube vor allem bin ich irritiert. Nichts, was so flächendeckend in Deutschland entschieden wurde haben wir früher so kritiklos hingenommen. Und jetzt nehmen wir es nur aus dem Grund so schnell wie möglich kritiklos hin, weil wir die, die Kritik üben, nicht leiden können. Und selbst das verstehe ich irgendwie. Ein Stück weit. Aber wenn die Afd jetzt sagt, sie möchte den Einzelhandel stärken, dann denke doch nicht: nee, wenn man’s genau betrachtet ist der Einzelhandel mir doch nicht so wichtig. Da ist mir doch der Inhalt, für den ich kämpfe, irgendwie heiliger. Und ja, es nervt, wenn ein Idiot Sachen sagt, die ich auch sage, aber dann muß ich halt mal bisschen differenzierter werden. Oder nicht? Und vielleicht ist auch mein Problem, daß ich als Hippie die ich bin, eben auch ein bisschen Spiritualität in mein Leben lasse. In jedem Fall. (Und daß Esoterik da eben auch mit reinfällt.) Aber da weiß ich doch irgendwie auch zu differenzieren. Und da lerne ich doch auch dazu. Da können wir doch irgendwie mal gucken was wir richtig finden und was falsch. Da müssen wir halt nur mal aufhören, immer gleich Recht haben zu wollen.

Herrje, ich werde dann immer ein bisschen wütend. Ich also auch. Diese ganze Corona Geschichte kriecht uns allen in die Glieder. Und auch ich möchte ja Recht haben. Aber wenn es nach mir geht möchte ich vor allem erst mal weniger einsam sein. Aber ich bin nicht einsam, weil ich meine Freunde nicht treffen darf oder weil ich nicht auf Partys gehen kann. Ehrlichgesagt, so als Mutter die im Lebensmittelhandel arbeitet um die Miete zu zahlen und versucht ihre Kunst in die Welt zu bringen, für die hat sich gar nicht so viel geändert. Nur daß jetzt die kleine Tochter, wenn ich nicht arbeite, mit mir in der Küche sitzt und leben will, und ich die große dazu bringen muß, Bruchrechnung in Dezimalrechnung umzuwandeln und die Dichte von Wasser auszurechnen. Auf Party bin ich schon lange nicht mehr gegangen, und die Zeit, die für Kunst und für Freunde bleibt, ist mit Abstand immer noch die seltenste und schönste. Und ich glaube einsam war ich auch vorher, nur merke ich es durch Corona etwas mehr. Weil noch eine Sache mehr hinzukommt, bei der ich wieder zwischen den Stühlen sitze.

Vielleicht sollte ich auch ein Ministerium gründen. Auf alle Fälle würde es dort ein Radio geben, aus dem Nils Koppbruch singt.

Ankommen

.

Von einer weiten Reise

groß, und doch sehr leise

voll, und doch ganz still

von der ich an einem neuen alten Hafen landen will.

.

Wild, und doch gehalten

jung, und doch mit Falten

stumm, und innen laut

mit einem neuen Ich, das sich zu schweigen traut.

.

Langsam trifft Entscheidung

Wärme kennt die Reibung

Ein Morgen folgt dem jetzt

Weil sich mein einer Fuß sanft vor den andern setzt.

Wunder, …

Ich sitze in meiner Küche und möchte von diesen zwei kleinen Wundern erzählen, die es ja irgendwie waren, letzte Woche. Ich tu mich schwer. Lösche, schreibe, lösche schreibe. Im Radio Religion und Gesellschaft. Ob es überhaupt zusammenhängt ich weiß es nicht, aber Montag verliere ich mein Portmonnaie. Das ist mir seit sechs Jahren nicht passiert. Ich bin ja verpeilt, ich weiß das, aber warum schaffe ich es dann sechs Jahre mit dem gleichen Portmonnaie? Montag aber dann, bin ich im Baumarkt, ich fahre mit dem Auto in den Drive-in und bin also im Baumarktgelände. Und bezahle zwei Bretter, mit meiner EC Karte, aus diesem Portmonnaie, und dann hiefe ich die Bretter ins Auto und dabei rechnet mein Kopf und ich merke ich brauche eigentlich noch ein Brett mehr. Also geh ich wieder rein, nehme noch ein Brett, will bezahlen. Und finde mein Portmonnaie nicht. Nirgends. Dann suche ich, Kasse, Auto, Zuschnitt, Nochmal Kasse, nochmal Auto, unter Regalen, nochmal und noch einmal alles ablaufen. Irgendwann gebe ich auf. Fahre nach Hause. Sperre meine EC-Karte. Bin genervt. Bin entkräftet. Ausweis, Führerschein, Selgros-Karte, Teilauto-Karte, drei AOK-Karten, VG-Ausweis, EC-Karte, alles war da drin. Nur Geld nicht. Das zweite Rezept meiner Kurzzeittherapie ist fast aufgebraucht. Ich bin unzufrieden, hab so wenig erreicht, ärger mich über mich selbst. Irgendwann, abends, ich fahr nochmal in den Baumarkt, um das dritte Brett zu kaufen, mit geliehenem Geld. Auf dem Weg schicke ich ein Gebet… irgendwo hin. Laut. Im Auto. Ich sage: „liebe Kräfte, lieber Gott, liebe Göttin, liebe Wesen, liebes Gefüge. Hier spricht Martha Barbara Dorothea Laux. Sollte sich mein Portmonnaie in den nächsten Tagen irgendwie wieder auffinden, und da noch das Meiste drin sein, dann verspreche ich, daß ich bis zum Ende des Februars, außer in der letzten Dezemberwoche, einmal pro Woche in meinen Proberaum gehe. Dies ist ein heiliges Versprechen!“ Und laut, froh darüber, daß mich niemand hören kann, rufe ich: „Ahoo!!“. Besiegle meinen Schwur. Und dann ist es auch irgendwie gut. Ich frage mich was ich daraus lernen kann. Portmonnaie verschwunden. David sagt ich soll mal nicht im Selbstmitleid versinken jetzt. Nils schreibt, keinen Meter Resignation. Wir kriegen das alles hin. Und David schmunzelt über meinen Schwur und fragt mich, warum ich nicht einfach so einmal die Woche in den Proberaum gehe. Na also. Recht haben sie. Ich sollte mal wieder auf die Beine kommen. Ich werde meinen Kopfdoktor fragen ob ich noch weiter machen kann. Dann diese ganzen Karten neu machen. Nun ja.

Am nächsten Tag gehe ich in den Proberaum und räume auf. Mittwoch muß ich arbeiten. Ich verschiebe den Gedanken noch etwas, daß ich wohl zuerst einen neuen Ausweis brauche. Zur Polizei gehen und so. Ewig überall warten. Ich hab so wenig Lust dazu. Donnerstag wieder arbeiten. Dann komme ich nach Hause und bin mit den Gedanken ganz woanders, als ich den Briefkasten öffne. Da ist ein Umschlag. Und da drin ist mein Portmonnaie! Da liegt es. Alles noch drin. Ausweis, Kassenzettel, das kleine Amulett aus Indien im Münzfach, der Dresden-Pass, meine Stempelkarte vom Tinten+Toner Shop, meine zerfledderte Bonuskarte von der Apotheke. Auf den Umschlag hat jemand mit einem Stift, der scheinbar beim Schreiben den Geist aufgegeben hat, „Frau Laucks“ geschrieben. Und die erste Silbe der Straße auf der ich wohne, und ein Punkt. Sonst nichts. Kein Zettel, kein Gruß. Kein Hinweis. Mein Herz klopft. Ich schreibe eine Nachricht: ‚David!! Ich muß jetzt einmal in der Woche in den Proberaum! Mein Portmonnaie war gerade in meinem Briefkasten!!‘. Ich bin durcheinander. Ich bin so erleichtert. Und so dankbar. Und still. Und mein Herz klopft. Die ganze Zeit. Ich habe schon so viele Strategien gefahren meinen Schweinehund zu überwinden. Er hat immer schärfere Zähne. Und ich verrate es niemandem, aber das hier fühlt sich ein bisschen anders an. Es ist mir so gleichgültig ob das alles Zufall ist. Und vor allem bin ich diesem Mensch dankbar, der bis zu mir gegangen ist und mir das Portmonnaie in meinen Briefkasten gesteckt hat. Aber trotzdem, die ganze Zeit seit dem, bin ich durcheinander. Da liegt so eine leise Magie in meinem Herzen, von der ich kaum jemandem erzähle. Die einfach mir gehört. Ein kleines Wunder, was sich aber keinem einzigen physikalischen Gesetz widersetzt. Warum auch? Ein Wunder kann sich doch mit Physik bestens vertragen! Und so gehe ich durch den Donnerstag. Schwebe eher ein bisschen. Heimlich. Und durch den Freitag auch noch. Freitag gebe ich die Kinder zu meinem Vater. Habe frei. Gehe arbeiten. Erledige den halbjährigen anfallenden Schulputz der dummerweise genau auf mein freies Wochenende fällt. Naja. Ich putze. Bringe den Schlüssel zurück. Fahre zu David in die Werkstatt. Trinke zwei Bier. Kein Whisky. Rauche ein wenig. Von allem nicht zu viel. Es geht mir gut. Halb drei bin ich im Bett, oder um drei. Ich kann ausschlafen. Samstag morgen um neun werde ich von irgendwas wach, gehe aufs Klo, lege mich nochmal hin. Gegen eins klingelt es an der Tür. Ich bin noch ohne Hose, nur ein langärmliger Pulli, meine Haare kreuz und quer, ich öffne die Tür einen Spalt breit, bin verpeilt. Eine Frau steht vor meiner Tür. „Bin ich da bei Laux richtig?“ fragt sie. Ich bejahe ihre Frage. Verstehe noch nicht viel. Die Frau murmelt, daß es schwer gewesen sei mich zu finden und drückt mir einen Umschlag in die Hand. „Das soll ich für Sie abgeben“ sagt sie und ist sichtlich bemüht zu gehen, ohne dabei unhöflich zu sein. Sie wünscht mir mehrmals eine schöne Adventszeit. Geht, so schnell wie es möglich ist ohne dabei unhöflich zu sein. „Eine schöne Adventszeit!“ sagt sie noch einmal. Ich, ich stammel herum. Auf dem Umschlag steht „Frau Laux“. Ich denke sofort an das Portmonnaie, weiß aber gar nicht warum. Der Umschlag geht leicht zu öffnen, und halb bin ich damit beschäftigt, zu verstehen was in dem Umschlag ist, halb versuche ich, die Frau irgendwie noch zu einer Antwort oder irgendeiner Kommunikation zu bewegen. Und ich bin müde. Und mein Hirn will ja immer erst verstehen, deswegen schaffe ich es weder zu lächeln noch mich irgendwie zu bedanken. Ich sehe in dem Umschlag fünfzig-Euro-Scheine. Ich verstehe nicht. Ich laufe zum Fenster, versuche die Frau auf der Straße vor meinem Haus noch in irgend ein Auto steigen zu sehen oder auf ein Fahrrad oder um die Ecke laufen, ich will laut „Danke!!“ auf die Straße rufen wenn ich sie sehe, aber ich sehe sie nirgends. Weg. Sie muß sich wirklich beeilt haben. Vielleicht ist sie auch in ihr Auto geflüchtet und hat dort erstmal ihren Puls wieder beruhigt. Ich weiß es nicht. Ich habe sie nirgends mehr sehen können. Dann öffne ich den Umschlag ganz. Eine Büroklammer. Daran vier fünfzig-Euro-Scheine. Und ein Blatt Papier. Ein Ausdruck, im Querformat. Umrahmt von vier orangenen Sternen. Blaue Schrift. Ein Schatteneffekt hinter den Buchstaben wie ich ihn von Word noch kenne.

„GLAUBE AN WUNDER, LIEBE UND GLÜCK, SCHAU NUR NACH VORNE UND NICHT ZURÜCK, LEBE DEIN LEBEN UND STEHE DAZU, DENN DIESES LEBEN, DAS LEBST NUR DU“

So stehe ich da. in meiner Küche. Mit diesem Umschlag in der Hand. Wie aus einer gänzlich anderen Welt zu mir vorgedrungen. Es ist Anfang Dezember und ich habe die Novembermiete noch nicht bezahlt. Ich verdiene vierhundertachtundvierzig Euro elf im Monat. Und da liegen zweihundert Euro in einem Umschlag. Wer war diese Frau? Mich erfasst ein Ärger, ein Zorn, darüber daß ich nicht mal danke gesagt habe. Mein Kopf war sofort mit der Suche nach Erklärung beschäftigt und mit dem Ausloten irgendwelcher Möglichkeiten, daß ich nicht mal gelächelt habe. Meine Augen nicht mal für eine Sekunde still gehalten. Den Blick der Frau erwidert. Ihre Wünsche. Ich habe nicht danke gesagt. Es ärgert mich so sehr.

Dann male ich ein Banner. Es ist Samstag, die Kinder kommen erst Sonntag wieder. Es ist mild draußen. Mir fällt dieser Stoff ein den ich seit Monaten aufhebe ohne zu wissen wofür. Mir fällt die orangene Farbe ein die ich noch habe. Ich zeige den Brief einigen meiner Nachbarn. Er berührt. Wo immer ich von ihm erzähle. Er hinterlässt Freude und Gänsehaut und Staunen. Sarah hat noch blaue Farbe. Ich male also vier orangene Sterne in jede Ecke des Banners, dann in die Mitte mit blau schreibe ich DANKE. Und vier Ausrufezeichen. Ich lasse das Bannertrocknen. Am Abend machen wir ein Lagerfeuer im Garten. Es ist ruhig. Wie sind zu fünft. Dann zu dritt. Am Schluss sitze ich allein am Feuer. So viele Gedanken gehen mir durch den Kopf. Jemand glaubt an mich. Ich habe Lust bald etwas aufzuschreiben. Ich schlafe gut. Ich schlafe aus. Am Sonntag hole ich eine lange Leiter aus meinem Proberaum. Laura und Sarah helfen mir. Wir hängen das Banner auf. So weit oben wie es eben geht, an der Stirnseite des Mietshauses in dem ich wohne. Das Banner ist groß. Man kann es von der nächsten Querstraße aus sehen. Ich bin dankbar. Ich bin durcheinander, immernoch. Dann kommen die Kinder zurück. Alle müssen sich erstmal wieder einfinden. Es gibt ein paar Tränen. Ein wenig Streit. Wir haben viele naguts. Dann zünden wir die zweite Kerze am selbstgemachten Kranz an. Es sieht schön aus. Es riecht gut. Eine neue Woche steht bevor.

Gestern habe ich viele Behördenbriefe erledigt. Rundfunkgebühren. Schulbeförderungskosten. Ofeneinbau-Genehmigung. Bildung und Teilhabe. Und endlich Miete gezahlt! Heute, mich an den Rechner gesetzt. Ein paar Worte gefunden. Endlich. Morgen will ich in den Proberaum. Ich muß ja. Hab‘ es ja versprochen. Laut. Im Auto.

Und ich möchte Danke sagen. Ganz viel Danke sagen!

Gedanken im Körper

Mein Gott, das ist immer noch alles so separiert. Kopf und Bauch. Das ist doch aber beides an mir dran. Ich laufe rum und lebe und es geschehen Dinge. Natürlich geschehen Dinge. Und ich entwickle mich. Und meist sind es Gedanken, die ich zuerst habe. Bin ich doch schließlich Kind dieses sehr rationalen Teils der Erde. Also stelle ich Dinge fest. Aber dort sind sie dann fest, wenn ich sie nicht weiter schicken kann. Wohin? In meine Zellen verdammt. Natürlich verstehe ich Dinge. Wer tut das nicht nach und nach? Aber ich bin ja nicht nur Kopf. Die Dinge müssen in meine Zellen. Tritratrallala, jede Zelle meines Körpers ist glücklich… Ist sie eben nicht. Weil sie so wenig abbekommen von den Gedanken. Von den schönen Gedanken. Von diesen weiß Gott teils atemberaubenden Gedankenschlüssen. Denn das ist ja zweiwas, immer noch, Kopf und Bauch. Und wir trennen ja so gern. Also sitze ich bei meiner Therapie und stelle Dinge über mich fest. Gute Dinge. Dinge die Sinn erschließen. Es entsteht neue Logik. Zusammenhänge. Und ich bin Ihnen so dankbar Herr Meyer-Deharde. Aber das ist eben Psychotherapie. Mein Kopfdoktor. Er hilft mir sehr beim Sortieren. Und Verstehen. Aber die gleichen Synapsen, die meine Gedanken ermöglichen, ermöglichen auch das Heben meines Armes. Sie ermöglichen auch die Art und Weise meiner Verdauung, die Geschwindigkeit meiner Atmung, das Schlagen meines Herzens, die Schmerzen in meinem Unterleib. Die einen Synapsen bringen sehr viele Gedanken zustande, zutage und hervor. Die anderen nicht. Also keine Gedanken. Aber den ganzen Rest von mir. Wann ich esse, wie laut ich atme, wie aufgeregt ich mich fühle. Unser Nervensystem haben wir unterteilt. In eines, worauf ich Einfluss habe, und eines, was von meinen Gedanken nicht steuerbar ist. Aber mein vegetatives Nervensystem vegetiert im Vergleich zu meinem somatischen dahin. Denn es will auch was abbekommen von der Datenflut. Will auch an dem Rausch eines neu verstandenen Zusammenhangs teilhaben. Und ja, da gibt es eine Brücke. Die Brücke zwischen Kopf und Bauch heißt Emotion. Emotion ist nichts als ein physisches Äquivalent von Gedanken. Und Emotionen sind ein physisches Phänomen herrgott. Aber sie sind wesentlich dezentraler als ein Bänderriss oder ein gesunder Stuhlgang. Sie finden im Gesamtsystem statt. Herz, Lunge, Bauch, Beine, Rücken. Aber wir fühlen nicht, und wir spüren nicht. Und wenn wir fühlen, dann fühlen wir uns: schlecht oder gut. (Unnötig zu sagen, welches wir versuchen zu meiden und welches zu mehren…). Da fühlen wir nicht Enge oder Weite, Wärme oder Kälte, Abstand oder Nähe. Wir fühlen uns nur schlecht oder gut. Was für völlig unzureichende Adjektive, wenn beschreiben sollte, wie ich mich nach dem letzten Trennungsgespräch fühle. Was für denkbar unbrauchbare Kriterien sind das, wenn ich verbalisieren will, wie ich mich fühle, nachdem mein Vater mich angerufen und Sachen gesagt hat, die er lange nicht gesagt hat. Emotionen sind die Wellen, die den Meeresboden mehr oder weniger schnell neu formatieren. Emotionen sind keine elfmonatige Leidensgeschichte. Sie ist eine mehrere Sekunden lange physische Erfahrung. Und nein, sie findet nicht im limbischen System statt, sie wird dort nur angezeigt. Meine Güte. Die Wetteranzeige deines Handys ist auch nicht der Ort, an dem es gerade bei 15 Grad regnet. Emotion findet im Körper statt. Sie sind eine wellenförmige Gesamtbewegung durch einen Großteil meiner Nervenbahnen, und zwar zum größten Teil jene außerhalb der Schaltzentrale. Und so eine Welle hilft (mir) eben genau dabei, solche gedanklich neu gewonnenen Wahrheiten in mein Gesamtsystem zu transportieren. An welcher Stelle haben wir den Wagenplatz denn verloren? Als der Kaufvertrag unterschrieben wurde, oder als die Bagger die ersten Lauben eingerissen haben? (Sowohl als auch!) Ich kann die Welt verstanden haben, im Hirn, aber nichts von dem ist doch von Wert, wenn meine Zellen nicht dieses Verständnis auch in ihre gänzlich nonverbalen Schaltkreise übersetzen können. Und dazu braucht es das physische Verstehen dieser Gedanken. Das physische Verstehen, das ist schon in sich ein Oxymoron, aber wie soll ich es anders nennen, in dieser Welt in der wir Dinge nur mit dem Hirn verarbeiten. (Wenn überhaupt…).

Also lasst mich doch fühlen. Lasst uns „Gefühle“ doch als eine körperliche Erscheinung erlauben, die Gedanken spürbar macht. Und auch andersherum. Wenn ich zulasse, was gefühlt werden will, nachdem mein Vater angerufen hat, dann, langsam, entstehen auch, formen sich Gedanken dazu. Worte. Erklärungen. Verständnis. Zusammenhänge. Weil es zusammengehört. Also lasst mich fühlen ohne beschämt oder tröstend die unangenehme Situation überbrücken zu wollen. Ich wünsche mir, daß wir zu den Krankenschwestern oder den Eltern werden, die geduldig dem Patienten die Haare zurückhalten, wenn er wieder über der Kloschüssel hängt, und dabei mit einem leisen Schmunzeln an ihren damaligen zweiten Vollrausch denken. Die abgehärtet und mit dem Herz am richtigen Fleck den Schieber bereit legen, wenn der nächste Durchfall kommt, und danach Teewasser aufsetzen. Herrgott und Emotionen sind ja weit aus geruchsarmer als Erbrochenes oder Durchfall. Es ist ein notwendiger Klärungsprozess. Wortlos meist. (Oder wenn dann mit diesem sich wiederholenden Worten über der Kloschüssel den man den Patienten dann sagen hört, wie „ich hätte beim Karusell nein sagen sollen…“. Weinen. Atmen. Stöhnen. Tönen. Lachen. Sich schütteln. Auf Kissen hämmern. Laut Seufzen. Geräusche machen! Lasst sie uns doch kommen, sein und gehen, die Welle. Viele kleine, statt eine große, allein im Bett. Motion ist nur Bewegung. Und E nur Energie. Es ist kein Leid und keine Euphorie, das wird es erst, nachdem unser Hirn es einordnet. Aber diese Sekunden des Fühlens, sie haben keine Worte und brauchen keine und wollen keine. Sie wollen nur über die Brücke. Nur in den Körper. Nur die Erlaubnis, durch die Zellen zu strömen. Sodaß die Gedanken im Körper landen, wo sie keine mehr sind. Wo sie neue Handlungen werden. Neues Atmen. Neue Muskulatur. Die den Stift beiseite legt. Den Hörer in die Hand nimmt. Das Kind in den Arm. Den Fuß vor die Tür. Den Darm beruhigt. Die Atmung justiert. Die Haut entspannt. Das Zwerchfell lockert. Der Fluß tut keinem weh, nur gestaut wird er gefährlich. Ein Staudamm braucht Steine, Dämmung, Statik, Halt und viel, viel zusätzliche Energie. Kein Wunder, daß mein Therapeut dann 80 € die Stunde kostet. Wenn sich all die Energie immer vor, an oder in meinen Zellen staut, setze ich Fett an, verkrampfen sich meine Muskeln, verkalkt meine Haut. Jedes Tier schüttelt sich, wäscht sich, schnurrt, knurrt, streckt sich, plustert sich kurz auf, lässt die Erfahrung durch den Körper durch. Weinen ist duschen von innen. Stöhnen ist Entlüftung der Lungen. Lachen ist Lockerung des Zwerchfells. Nicht die Emotionen machen mir Sorgen. Ihre Abwesenheit tut es!

Brief an Richard David Precht

Lieber Herr Precht.

Ich habe gerade, im Zuge (m)einer kinderfreien Woche, eine Folge von Jung und Naiv vom September diesen Jahres geschaut. Und es war mir eine Freude, natürlich, und ich bin froh, und staune auch immer, daß wenn ich mir dann mal den Luxus gönne, mich ein wenig ins Weltgeschehen und den Diskussionen darum hineinzuklicken, daß ich dann bei so etwas wie dem eben gesehenen Video herauskomme. Wie dem auch sei, dieses Video brachte mich dazu, Ihnen einen in mir schon lange reifenden Gedanken nieder zu schreiben: Ein Gedankengang, viel mehr, nämlich zu Ihrer, in dem Interview mit Tilo Jung eigentlich nur kurz angeschnittenen Frage nach dem Sinn des Lebens. Es ging wie gesagt in dem Gespräch auch nicht lange um diese Frage, aber eines Ihrer Bücher trägt diese Formulierung zumindest im Titel. (Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens…) Ich habe es nicht gelesen. Dazu müsste ich wahrscheinlich ein gänzlich kinderfreies Leben führen, oder beim Ausschreiben zur Grundeinkommens-Studie gewinnen. 😉 Wie dem auch sei, ich möchte Ihnen unbedingt kurz diesen einen Gedanken(strang) schreiben. (Mögen die nicht messbaren Algorithmen dieses Lebens entscheiden, ob Sie diese Zeilen je lesen werden…)

Bei dieser Frage, nach dem „Sinn des Lebens“, an die wir uns – gefühlt – immer nicht so gerne wagen, (irgendwie scheint sie in ihrer Größe zu.. philosophisch oder „schwer“, im Sinne von gewichtig zu sein…) bei dieser Frage ärgert mich die ganze Zeit ein Fakt, der meiner Meinung nach dazu führt, daß wir diese wie ich finde nicht unwichtige Frage meiden, umschiffen oder auf den Stapel der Dinge legen, über die man bei einem Bier und mit etwas Humor an einem See im Urlaub mal spekulieren kann, die aber in meinem realen, alltäglichen Leben keine Rolle spielt, oder kein Platz hat. Und der Fakt, der mich dabei ärgert, ist die Definition oder das Verständnis des Wortes „Sinn“, die, bzw. welches wir meiner Meinung nach davon haben. Meinem Empfinden nach ist derzeit die Frage nach dem Sinn von etwas immer auch eine Frage nach einer Art Berechtigung. Eine Art Legitimation der Existenz. Hat etwas einen Sinn, dann ist es gut, fühlt sich gut an, dann ist es „richtig“. Und hat etwas keinen Sinn, dann verliert es irgendwie an Existenzberechtigung. Das ist ja erstmal in vielen Fällen äußerst logisch, denn wenn es keinen Sinn ergibt, daß ich seit einer Stunde auf meine Verabredung warte, dann ist es auch nachvollziehbar, daß ich dann gehe, weil mich das weitere Warten innerlich frustriert. Wenn aber also nach dem Sinn des Lebens gefragt wird, haftet dem immer an, daß ich meinem Leben, meiner Existenz, irgendwie einen gesamtheitlichen Grund geben muß, oder eine Art Ziel, einen Inhalt. Und dem haftet natürlich auch an, daß, wenn ich auf dieses Problem keine Lösung finde, es sich eigenartig leer anfühlt, und die Frage nahe liegt, was alle untergeordneten Handlungen und Entscheidungen in meinem Leben dann für einen Grund haben, und ob nicht alles ganz anders getan oder entschieden werden könnte. Und es haftet dem außerdem an, daß meine Existenz hier auf diesem Planeten ohne Bedeutung sein könnte, was sich natürlich unangenehm anfühlt. (Selbst wenn ich auf die Frage eine Antwort finde, wenn ich also einen Sinn im Leben sehe, lägen auch die Fragen nah‘, was ich mache wenn ich das Ziel erreicht habe, oder was ich mache wenn es sich als Irrtum herausstellt…)

Ich behaupte also, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens immer eine etwas schwer zu greifende Schwere bekommt, solange wir „Sinn“ als etwas definieren, was nicht viel mehr tut, als in seiner Anwesenheit eine Art Berechtigung und in seiner Abwesenheit eine Art Leere herstellt.

Und vielleicht haben Sie darüber schon einige ausführliche Stunden nachgedacht und diesen Gedankenkomplex hinreichend durchforstet, vielleicht haben Sie sogar längst irgend ein Buch darüber geschrieben, und ich habe von all dem nichts mitbekommen. Vielleicht ist das alles für Sie eine etwas zeitraubende und wenig bedeutsame Überlegung, das wäre mir ein wenig unangenehm, aber es würde den Drang Ihnen das folgende noch mitzuteilen nicht mindern:

Denn ich finde die Frage, oder besser die Antwort auf die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ keine unwesentliche, auch für unser aller Zusammenleben! Aber eben aus einer Kameraperspektive, die diese Frage etwas anders versteht: Die nämlich die Frage von ihrer Wertung und ihrer Existenzberechtigung befreit, und vielmehr nach dem Prinzip des Lebens fragt. Wenn ich also viel weniger frage, warum ich lebe, sondern: nach welchen Gesetzmäßigkeiten Leben an sich funktioniert! Welchen Prinzipien folgt also alles, was lebt? Das zieht nun natürlich zwangsläufig nach sich, den Begriff „Leben“, definieren zu müssen. Und das hat sicher schon der eine oder die andere vor mir getan, und ich habe wahrscheinlich auch davon keine/n gelesen. Ich habe sie alle nicht gelesen, die Heideggers und Kants und Descartes und Metzingers und Arendts und Prechts (doch, von dem hab ich „selbst Denken“ gelesen. Kam damals genau zur richtigen Zeit das Buch, war super!), und vielleicht bin ich größenwahnsinnig zu glauben, die Gedanken die ich habe, hätte vorher noch niemand gehabt. Aber ich muß das ja auch alles nicht gelesen haben, finde ich, um solche Zeilen verfassen zu dürfen, es gibt ja auch noch ein paar andere Bildungshintergründe, aus denen heraus man philosophisch werden darf, wie Kinder kriegen zum Beispiel. Wie dem auch sei, wenn ich das jetzt einfach mal so aus meiner wie auch immer gearteten Perspektive, und meinetwegen sehr spielerisch, beschreibe, wie ich es denke: Wenn ich „Leben“ nicht sehe als das Existieren oder Handeln. Sondern wenn ich frage: was vereint alle Wesen, die leben. Und wenn ich das jetzt zum Beispiel mal eher biologisch sehe, und sage:

Alles was lebt: 1. wechselwirkt mit seiner Umwelt, 2. organisiert und reguliert sich selbst (soweit ich die Homöostase bisher verstanden habe, liebe ich dieses Gedankenfeld…), es versucht also immer einen Gleichgewichtszustand aufrechtzuerhalten, 3. alles was lebt ist reizbar, das heißt es re-agiert (damit auch) immer auf seine Umwelt, 4. alles was lebt, will sich fortpflanzen oder reproduzieren, das heißt auch, es will sich selbst in gewissem Rahmen erhalten, und, es will 5. auch das, was es kann oder gelernt hat, weiter geben (Vererbung) und es folgt last but not least 6. außerdem immer dem Bedürfnis des Wachstums im Sinne einer (Weiter)Entwicklung. (Und ich sehe hier nicht unbedingt das Bedürfnis, aus etwas immer mehr zu machen, genauso wie ein Kirschkern nicht zwangsläufig ein immer größerer Kirschkern werden will, sondern ein Kirschkern will sich in Richtung eines Baumes ent-wickeln, es will die Informationen, die es in sich trägt, zu einer Realität werden lassen, dem Kirschbaum.)

Wenn wir uns also in irgendeiner Form darauf einigen könnten, welchen Prinzipien das Phänomen „Leben“ folgt, welche Mechanismen demnach auch allen Wesen, die leben, inne wohnen, wie zum Beispiel (!) diese o.g. biologischen Prinzipien. Dann könnte ich doch relativ einfach fragen: Hat mein Leben einen Sinn, oder nicht. Das wäre dann aber eben nicht die Frage: hat mein Leben eine Berechtigung, oder nicht, sondern die Frage wäre dann vielmehr: folge ich, als Wesen, welches lebt, den Prinzipien des Lebens?

Außerdem könnte ich mich dann auch vor einigen größeren Diskussionen oder Streits erst einmal fragen: Will ich denn leben? Befürworte ich das Leben, halte ich es für erstrebenswert, dem Prinzip des Lebens zu folgen? Wenn sich unsere Antworten in diesem Punkt unterscheiden, könnten wir uns demnach auch einen langwierigen Streit ersparen, denn niemand „muß“ ja Leben befürworten. Aber wenn wir uns vorab darauf einigen würden, daß wir das Leben erstmal wollen, oder erhalten wollen, den Prinzipien von „Leben“ also folgen wollen, dann müssten wir doch „nur“ noch fragen: Gut, und was von dem was wir tun oder nicht tun, erhält also das Leben, und was tut es nicht. (Das läge auch die wie ich finde schöne Alternative zum Begriff „richtig“ oder „falsch“ nahe, man könnte da dann eher fragen: ist etwas für oder ist es gegen das Leben!).

Und bei dieser Fragestellung ist es doch dann relativ (!) einfach, zu sehen, daß ein Wunsch nach permanentem Wachstum, der kein Kreislauf ist, sondern ein lineares Ins-Unendliche-Streben, das Leben langfristig nie erhält, sondern völlig gegen das Leben gerichtet ist. Oder natürlich, daß endliche Rohstoffe aus der Erde zu ziehen dem Prinzip Leben widerstrebt. Daß mehr Bäume zu roden als nachwachsen können auch nicht dem Prinzip „Leben“ folgt. Oder auch, daß immer Recht haben zu wollen in einer Kommunikation, nicht dem Prinzip des Re-agierens folgt, sich da auch überhaupt nichts fortpflanzt und da weder bei mir selbst noch beim Andern sich irgendwas weiterentwickelt. Oder daß das Ziehen von Grenzen unter einigen Gesichtspunkten dem Prinzip des Lebens sehr folgt, wenn es schützt, wenn es sich abgrenzt um beispielsweise zu wachsen oder zu heilen, daß aber eine andere Form der dauernden Abgrenzung dem Prinzip des Lebens überhaupt nicht folgt, weil es Diversität verunmöglicht, weil es auf lange Sicht auf Inzucht hinaus läuft und da auch nichts mehr in Beziehung gehen kann. Ein Erdbeerfeld zu pflanzen kann für das (Prinzip) Leben sein, ihm also zuträglich, Strawberry fields forever wäre aber irgendwann gegen das (Prinzip) Leben. Gewalt ist wahrscheinlich in den meisten Fällen dem Prinzip des Lebens äußerst abträglich. Mich aber mit Gewalt gegen die Vernichtung meines Lebensraumes wehren, könnte in manchen Fällen aus der Perspektive des „Prinzips Leben“ aber vielleicht nachvollziehbar sein. Arbeitsplätze zu schaffen wäre dann nicht per se ein Allheilmittel für alles was lebt, sondern es müsste gefragt werden, was tut denn der Mensch, der da arbeitet? (Entwickelt er sich oder irgendetwas weiter, oder hält er einen gegen das Leben gerichteten Mechanismus am Laufen?). Das ganze Gebiet der Ernährung müsste nicht mehr hinsichtlich der Frage betrachtet werden, ob vegetarisch zu essen richtig oder falsch ist, sondern zum Beispiel nach der Frage, wie viel Fleischkonsum ist sinn-voll, folgt also den Prinzipien des Lebens, und ab wie viel davon konterkarieren wir das Prinzip Leben damit? Ich könnte die Liste noch eine Weile lang fortsetzen, dessen, was also das Prinzip Leben bejaht, und was sich dem Prinzip leben entgegenstellt. Wenn wir uns also, und dabei ist es vielleicht sogar unerheblich, ob ich das individuell betrachte oder gesamtgesellschaftlich, viel weniger fragen: ist mein Leben gut, hat es einen Sinn, daß ich hier existiere, hat mein oder unser Leben eine Bedeutung, sondern wenn ich mich stattdessen frage: folgt mein Handeln oder die Summe meiner Entscheidungen dem Prinzip Leben, dann wäre doch die Antwort genau darauf durchaus interessant, und lohnte es sich damit zu stellen, oder nicht?

So. Lieber Herr Precht. Dies ist also mein Gedankengang, den ich schon seit wirklich geraumer Zeit mit mir herumtrage, und den ich nun endlich mal verschriftlicht und in die Welt geschickt habe. (Und sei es nur ein selbst-therapeutischer Zweck, dem das Ganze hier gefolgt ist, so war es für mich, glaube ich, doch sehr dem Leben zuträglich, denn ich habe mich durchaus beim Schreiben dessen ein wenig selbst reguliert, habe auf Reize meiner Umwelt reagiert, habe diesen Gedanken vielleicht sogar ein wenig fortgepflanzt (und sei es nur in mir…), habe mich irgendwie auch um einen Nanometer vererbt, zumindest potentiell, habe mich selbst beim Schreiben definitiv ein wenig weiterentwickelt und vielleicht wechselwirke ich sogar damit ein wenig mit meiner Umwelt. Wer weiß 🙂

Ich danke Ihnen fürs (eventuelle) Lesen bis hier hin.

Mit den besten Grüßen und nicht ohne meine Hochachtung,

Martha Laux

(Dresden, 28.10.2020)