Corona-Tagebuch 1.2

Geh noch nicht, Corona

Es ist mir eher eine vage Erinnerung, daß es da mal ein Lock-Down gab. Auch wenn meine Tochter erst einen Tag die Woche wieder in die Schule geht. Ich höre kaum noch Radio. Alles ist noch irgendwie in dieser Blase, aber der Sog hat auch die Blase kaum merklich ergriffen, natürlich. Wir brauchen unseren Wachstum, unser Immerweiter, das Müssen, wir brauchen es wie die Luft zum Atmen, anscheinend. Und auch an mich hat es sich wieder drangehangen, ohne daß ich ausmachen könnte wann das geschehen ist. Das Müssen. Es muß ja Miete gezahlt werden. Es muß ja eingekauft werden. Es muß ja auch krankenversichert sein. Es muß ja weitergehen. Es muß ja auch glücklich sein ab und zu. Es muß ja irgendwie für die Grundlage gesorgt werden. Es muß immer irgendwie aus Minus Null gemacht werden, damit man sich ausruhen kann, denn man muß ja am nächsten Tag wieder Müssen. Und der Lock-Down war mir so ein Geschenk. Plötzlich konnte ich atmen. Einfach erst mal atmen. Und dann, ganz heimlich, konnte ich mich ja um die Sachen kümmern, die ich eigentlich machen will. Plötzlich, weil ja auch niemand geguckt hat, konnte ich mir einen Tag einrichten an dem ich eine Idee aus dem Schuhkarton hole und sie in die Welt bringe. Ich konnte sogar noch eine zweite rausholen. Ich konnte nicht müssen. Plötzlich konnte ich kurz einfach glücklich sein und musste gar nicht. Und habe es natürlich nur heimlich gemacht, anfangs, weil die Situation natürlich besorgniserregend war, zumindest für andere, und das wollte ich niemandem absprechen. Aber mir war der Lock-Down ein solcher Balsam für die Seele. Für einen Moment musste das Herz nicht müssen, und es durfte so viel, denn es will ja gar nichts böses. Es durfte sich ausruhen. Einfach ausruhen. Und mit diesem Platz, den es da bekam, mit diesem Raum zum Atmen, entstand so viel Lust zum Handeln. Und ich meine nicht so ein Handeln wie jetzt kipp ich mir als allererstes viereinhalb Whisky hinter die Birne und schlafe jeden Tag bis vierzehn Uhr. Und auch nicht so ein Handeln wie ich unterschreibe jetzt sofort fünfeinhalb Petitionen weil ich meine Grundrechte in Gefahr sehe. Es war so ein Handeln wie: ich fahre an einen See und höre die Bäume atmen. Ich treffe mich mit einem Freund und mach endlich den Song fertig der seit anderthalb Jahren darauf wartet auf Youtube gestellt zu werden. Ich kaufe mit meiner Tochter endlich die Kommode die sie sich so lange wünscht und abends essen wir zu dritt Sushi. Am nächsten Tag bauen wir sie mühsam im Chaos zusammen und ich verfluche Ikea und unsere Billig-Gesellschaft, aber freue mich an der Kommode und der Ruhe die sie herstellt. Ich liege allein in meinem Bett und suche den Ort in mir wo ich ganz ich selber bin. Ich mache Yoga ohne daß ich es mir vorgenommen habe. Ich merke daß ich eigentlich anders wohnen möchte. Ich entdecke neue Musik. Und da ist noch lange keine Struktur, keine Basis des Nicht-Müssens, es ist lediglich Platz, den mein Herz plötzlich geschenkt bekommen hat.

Und vielleicht sollte ich Radio hören. Vielleicht sollte ich mitentscheiden. Mich beteiligen. Aber ich bin eigentlich nur dabei, den Wänden zuzuschauen, die sich wieder verdichten, dem Raum, der wieder kleiner wird um mich. Versuche noch eilig zu entscheiden, welche Dinge es unbedingt zu behalten lohnt. Ich muß jetzt mal irgendwie wieder arbeiten. Dringend. Mai ist die Miete gezahlt. Für Juni weiß ich noch nicht ganz wie und wovon. Juli weiß ich noch gar nicht. And don’t ask me about the Sommerferien. Ich sehe nicht mehr sehr weit, der Nebel hat sich wieder verdichtet. Ach Corona denke ich, geh noch nicht. Lass mir noch ein wenig Zeit. Lass mir noch ein wenig dieser Ruhe, die meinen vielen Gedanken so viel Platz geschenkt hat und mein Herz so weit gemacht hat. Jetzt muss ich sogar wieder meditieren, wenn ich nicht wieder aufgesogen werden will, vom Strudel, und mir dann doch Donnerstag Abend noch dreieinhalb Whisky eingieße weil es den Moment so anhält. Ach Corona. Dein Lock-Down hat mir so viel leise, warme Ruhe geschenkt, die so viel frei gemacht hat in mir.

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