Ich sitze in meiner Küche und möchte von diesen zwei kleinen Wundern erzählen, die es ja irgendwie waren, letzte Woche. Ich tu mich schwer. Lösche, schreibe, lösche schreibe. Im Radio Religion und Gesellschaft. Ob es überhaupt zusammenhängt ich weiß es nicht, aber Montag verliere ich mein Portmonnaie. Das ist mir seit sechs Jahren nicht passiert. Ich bin ja verpeilt, ich weiß das, aber warum schaffe ich es dann sechs Jahre mit dem gleichen Portmonnaie? Montag aber dann, bin ich im Baumarkt, ich fahre mit dem Auto in den Drive-in und bin also im Baumarktgelände. Und bezahle zwei Bretter, mit meiner EC Karte, aus diesem Portmonnaie, und dann hiefe ich die Bretter ins Auto und dabei rechnet mein Kopf und ich merke ich brauche eigentlich noch ein Brett mehr. Also geh ich wieder rein, nehme noch ein Brett, will bezahlen. Und finde mein Portmonnaie nicht. Nirgends. Dann suche ich, Kasse, Auto, Zuschnitt, Nochmal Kasse, nochmal Auto, unter Regalen, nochmal und noch einmal alles ablaufen. Irgendwann gebe ich auf. Fahre nach Hause. Sperre meine EC-Karte. Bin genervt. Bin entkräftet. Ausweis, Führerschein, Selgros-Karte, Teilauto-Karte, drei AOK-Karten, VG-Ausweis, EC-Karte, alles war da drin. Nur Geld nicht. Das zweite Rezept meiner Kurzzeittherapie ist fast aufgebraucht. Ich bin unzufrieden, hab so wenig erreicht, ärger mich über mich selbst. Irgendwann, abends, ich fahr nochmal in den Baumarkt, um das dritte Brett zu kaufen, mit geliehenem Geld. Auf dem Weg schicke ich ein Gebet… irgendwo hin. Laut. Im Auto. Ich sage: „liebe Kräfte, lieber Gott, liebe Göttin, liebe Wesen, liebes Gefüge. Hier spricht Martha Barbara Dorothea Laux. Sollte sich mein Portmonnaie in den nächsten Tagen irgendwie wieder auffinden, und da noch das Meiste drin sein, dann verspreche ich, daß ich bis zum Ende des Februars, außer in der letzten Dezemberwoche, einmal pro Woche in meinen Proberaum gehe. Dies ist ein heiliges Versprechen!“ Und laut, froh darüber, daß mich niemand hören kann, rufe ich: „Ahoo!!“. Besiegle meinen Schwur. Und dann ist es auch irgendwie gut. Ich frage mich was ich daraus lernen kann. Portmonnaie verschwunden. David sagt ich soll mal nicht im Selbstmitleid versinken jetzt. Nils schreibt, keinen Meter Resignation. Wir kriegen das alles hin. Und David schmunzelt über meinen Schwur und fragt mich, warum ich nicht einfach so einmal die Woche in den Proberaum gehe. Na also. Recht haben sie. Ich sollte mal wieder auf die Beine kommen. Ich werde meinen Kopfdoktor fragen ob ich noch weiter machen kann. Dann diese ganzen Karten neu machen. Nun ja.
Am nächsten Tag gehe ich in den Proberaum und räume auf. Mittwoch muß ich arbeiten. Ich verschiebe den Gedanken noch etwas, daß ich wohl zuerst einen neuen Ausweis brauche. Zur Polizei gehen und so. Ewig überall warten. Ich hab so wenig Lust dazu. Donnerstag wieder arbeiten. Dann komme ich nach Hause und bin mit den Gedanken ganz woanders, als ich den Briefkasten öffne. Da ist ein Umschlag. Und da drin ist mein Portmonnaie! Da liegt es. Alles noch drin. Ausweis, Kassenzettel, das kleine Amulett aus Indien im Münzfach, der Dresden-Pass, meine Stempelkarte vom Tinten+Toner Shop, meine zerfledderte Bonuskarte von der Apotheke. Auf den Umschlag hat jemand mit einem Stift, der scheinbar beim Schreiben den Geist aufgegeben hat, „Frau Laucks“ geschrieben. Und die erste Silbe der Straße auf der ich wohne, und ein Punkt. Sonst nichts. Kein Zettel, kein Gruß. Kein Hinweis. Mein Herz klopft. Ich schreibe eine Nachricht: ‚David!! Ich muß jetzt einmal in der Woche in den Proberaum! Mein Portmonnaie war gerade in meinem Briefkasten!!‘. Ich bin durcheinander. Ich bin so erleichtert. Und so dankbar. Und still. Und mein Herz klopft. Die ganze Zeit. Ich habe schon so viele Strategien gefahren meinen Schweinehund zu überwinden. Er hat immer schärfere Zähne. Und ich verrate es niemandem, aber das hier fühlt sich ein bisschen anders an. Es ist mir so gleichgültig ob das alles Zufall ist. Und vor allem bin ich diesem Mensch dankbar, der bis zu mir gegangen ist und mir das Portmonnaie in meinen Briefkasten gesteckt hat. Aber trotzdem, die ganze Zeit seit dem, bin ich durcheinander. Da liegt so eine leise Magie in meinem Herzen, von der ich kaum jemandem erzähle. Die einfach mir gehört. Ein kleines Wunder, was sich aber keinem einzigen physikalischen Gesetz widersetzt. Warum auch? Ein Wunder kann sich doch mit Physik bestens vertragen! Und so gehe ich durch den Donnerstag. Schwebe eher ein bisschen. Heimlich. Und durch den Freitag auch noch. Freitag gebe ich die Kinder zu meinem Vater. Habe frei. Gehe arbeiten. Erledige den halbjährigen anfallenden Schulputz der dummerweise genau auf mein freies Wochenende fällt. Naja. Ich putze. Bringe den Schlüssel zurück. Fahre zu David in die Werkstatt. Trinke zwei Bier. Kein Whisky. Rauche ein wenig. Von allem nicht zu viel. Es geht mir gut. Halb drei bin ich im Bett, oder um drei. Ich kann ausschlafen. Samstag morgen um neun werde ich von irgendwas wach, gehe aufs Klo, lege mich nochmal hin. Gegen eins klingelt es an der Tür. Ich bin noch ohne Hose, nur ein langärmliger Pulli, meine Haare kreuz und quer, ich öffne die Tür einen Spalt breit, bin verpeilt. Eine Frau steht vor meiner Tür. „Bin ich da bei Laux richtig?“ fragt sie. Ich bejahe ihre Frage. Verstehe noch nicht viel. Die Frau murmelt, daß es schwer gewesen sei mich zu finden und drückt mir einen Umschlag in die Hand. „Das soll ich für Sie abgeben“ sagt sie und ist sichtlich bemüht zu gehen, ohne dabei unhöflich zu sein. Sie wünscht mir mehrmals eine schöne Adventszeit. Geht, so schnell wie es möglich ist ohne dabei unhöflich zu sein. „Eine schöne Adventszeit!“ sagt sie noch einmal. Ich, ich stammel herum. Auf dem Umschlag steht „Frau Laux“. Ich denke sofort an das Portmonnaie, weiß aber gar nicht warum. Der Umschlag geht leicht zu öffnen, und halb bin ich damit beschäftigt, zu verstehen was in dem Umschlag ist, halb versuche ich, die Frau irgendwie noch zu einer Antwort oder irgendeiner Kommunikation zu bewegen. Und ich bin müde. Und mein Hirn will ja immer erst verstehen, deswegen schaffe ich es weder zu lächeln noch mich irgendwie zu bedanken. Ich sehe in dem Umschlag fünfzig-Euro-Scheine. Ich verstehe nicht. Ich laufe zum Fenster, versuche die Frau auf der Straße vor meinem Haus noch in irgend ein Auto steigen zu sehen oder auf ein Fahrrad oder um die Ecke laufen, ich will laut „Danke!!“ auf die Straße rufen wenn ich sie sehe, aber ich sehe sie nirgends. Weg. Sie muß sich wirklich beeilt haben. Vielleicht ist sie auch in ihr Auto geflüchtet und hat dort erstmal ihren Puls wieder beruhigt. Ich weiß es nicht. Ich habe sie nirgends mehr sehen können. Dann öffne ich den Umschlag ganz. Eine Büroklammer. Daran vier fünfzig-Euro-Scheine. Und ein Blatt Papier. Ein Ausdruck, im Querformat. Umrahmt von vier orangenen Sternen. Blaue Schrift. Ein Schatteneffekt hinter den Buchstaben wie ich ihn von Word noch kenne.
„GLAUBE AN WUNDER, LIEBE UND GLÜCK, SCHAU NUR NACH VORNE UND NICHT ZURÜCK, LEBE DEIN LEBEN UND STEHE DAZU, DENN DIESES LEBEN, DAS LEBST NUR DU“
So stehe ich da. in meiner Küche. Mit diesem Umschlag in der Hand. Wie aus einer gänzlich anderen Welt zu mir vorgedrungen. Es ist Anfang Dezember und ich habe die Novembermiete noch nicht bezahlt. Ich verdiene vierhundertachtundvierzig Euro elf im Monat. Und da liegen zweihundert Euro in einem Umschlag. Wer war diese Frau? Mich erfasst ein Ärger, ein Zorn, darüber daß ich nicht mal danke gesagt habe. Mein Kopf war sofort mit der Suche nach Erklärung beschäftigt und mit dem Ausloten irgendwelcher Möglichkeiten, daß ich nicht mal gelächelt habe. Meine Augen nicht mal für eine Sekunde still gehalten. Den Blick der Frau erwidert. Ihre Wünsche. Ich habe nicht danke gesagt. Es ärgert mich so sehr.
Dann male ich ein Banner. Es ist Samstag, die Kinder kommen erst Sonntag wieder. Es ist mild draußen. Mir fällt dieser Stoff ein den ich seit Monaten aufhebe ohne zu wissen wofür. Mir fällt die orangene Farbe ein die ich noch habe. Ich zeige den Brief einigen meiner Nachbarn. Er berührt. Wo immer ich von ihm erzähle. Er hinterlässt Freude und Gänsehaut und Staunen. Sarah hat noch blaue Farbe. Ich male also vier orangene Sterne in jede Ecke des Banners, dann in die Mitte mit blau schreibe ich DANKE. Und vier Ausrufezeichen. Ich lasse das Bannertrocknen. Am Abend machen wir ein Lagerfeuer im Garten. Es ist ruhig. Wie sind zu fünft. Dann zu dritt. Am Schluss sitze ich allein am Feuer. So viele Gedanken gehen mir durch den Kopf. Jemand glaubt an mich. Ich habe Lust bald etwas aufzuschreiben. Ich schlafe gut. Ich schlafe aus. Am Sonntag hole ich eine lange Leiter aus meinem Proberaum. Laura und Sarah helfen mir. Wir hängen das Banner auf. So weit oben wie es eben geht, an der Stirnseite des Mietshauses in dem ich wohne. Das Banner ist groß. Man kann es von der nächsten Querstraße aus sehen. Ich bin dankbar. Ich bin durcheinander, immernoch. Dann kommen die Kinder zurück. Alle müssen sich erstmal wieder einfinden. Es gibt ein paar Tränen. Ein wenig Streit. Wir haben viele naguts. Dann zünden wir die zweite Kerze am selbstgemachten Kranz an. Es sieht schön aus. Es riecht gut. Eine neue Woche steht bevor.
Gestern habe ich viele Behördenbriefe erledigt. Rundfunkgebühren. Schulbeförderungskosten. Ofeneinbau-Genehmigung. Bildung und Teilhabe. Und endlich Miete gezahlt! Heute, mich an den Rechner gesetzt. Ein paar Worte gefunden. Endlich. Morgen will ich in den Proberaum. Ich muß ja. Hab‘ es ja versprochen. Laut. Im Auto.
Und ich möchte Danke sagen. Ganz viel Danke sagen!